„Vera“ (1874)

„Vera“ (1874) – Einleitung

„Vera“, eine der Grausamen Erzählungen des französischen Viktorianers Villiers de L’Isle-Adam, darf in diesem Jahr bei den viktorianischen Schauergeschichten zu Halloween nicht fehlen. Ich reiche sie daher heute ein wenig verspätet nach.

Falls Ihr den Grund noch nicht kennt, auch den reiche ich noch einmal nach -> https://www.meineleselampe.de/ludwig-maykel-und-die-alraunen/.

„Vera“ – über den Autor

Jean Marie Mathias Philippe Auguste Comte Villiers de L’Isle-Adam lautet der volle Name des Autors, der mir bisher nicht bekannt war. Ich habe ihn erst beim Lesen in „Das Vierte Buch des Horrors“ entdeckt.

Villiers de L’Isle-Adam wurde am 7. November 1838 zwar adelig, jedoch verarmt geboren. Oh, dann würde er also am kommenden Sonntag seinen 183. Geburtstag feiern!!

Früh veröffentlichte er einen ersten Gedichtband, doch anhaltender Erfolg oder gar Reichtum stellten sich durch die Schriftstellerei nicht ein. Villiers de L’Isle-Adam versuchte sich als Journalist, Herausgeber einer Zeitschrift und als Autor eines Theaterstücks, doch diese Projekte fruchteten nicht so recht.

"Vera"

Am besten verkauften sich seine Contes Cruels (1883), zu denen auch die 1874 geschriebene Erzählung „Vera“ zählt und die Nouveaux Contes Cruels (1888).

(Bild links: Dagmar Räder/Pixabay)

Trotz eingeschränkter pekuniärer Mittel führte Villiers de L’Isle-Adam in Paris das Leben eines intellektuellen Bohemiens und war mit namhaften Schriftstellerkollegen wie Charles Baudelaire (1821-1867, „Die Blumen des Bösen“) und Stéphane Mallarmé (1842-1898, „Herodias“) befreundet. Villiers de L’Isle-Adam gehörte zu dem Kreis der französischen Symbolisten, die die Kunst um ihrer selbst willen betrieben („L’art pour l’art“).

Nicht die Realität oder fassbare Gegenstände zählten für sie, sondern die Idee oder das Gefühl dahinter sollte abgebildet werden (nachgelesen in : Gero von Wilpert, „Sachwörterbuch der Literatur“, Alfred Kröner Verlag Stuttgart, siebte erweiterte Auflage,1989).

Zu den Vorreitern und Vorbereitern des französischen Symbolismus wird der amerikanische Viktorianer Edgar Allan Poe gerechnet – sein Werk beeinflusste auch Villiers de L’Isle-Adam.

"Vera"

Im August 1889 starb Villiers de L’Isle-Adam verarmt in einem Pariser Krankenhaus – vermutlich an Krebs.

(Bild rechts: edmondlafoto/Pixabay)

Heute wird Villiers de L’Isle-Adam als bedeutender Autor phantastischer Geschichten und Erzählungen des Genres „Psycho-Horror“ geschätzt und natürlich als einer der Vertreter des französischen Symbolismus gewürdigt.

„Vera“ – die Erzählung

In Paris geht ein Herbsttag zur Neige – die Dämmerung setzt ein. Graf d’Athol, ein Mann in mittleren Jahren, kehrt heim in sein Palais. Heute musste er seine geliebte Ehefrau in der Familiengruft beisetzen. Lange Stunden hat er bei Vera gewacht, die erst am Abend zuvor ihr Leben in seinen Armen ausgehaucht hatte.

"Vera"

Als d’Athol sich endlich durchringen konnte, das Mausoleum zu verlassen und die Tür hinter sich zu verschließen, warf er den Schlüssel durch ein Fenster in die Gruft. Warum er das tut, weiß er nicht.

(Bild links: david-k/Pixabay)

Zurück im Palais, im gemeinsamen Schlafzimmer, erinnert ihn alles an Vera: der Abdruck ihres Kopfes im Kissen, ihr hingeworfenes Kleid, ihre Perlen, der Duft ihres Parfums, ihr Taschentuch mit den Blutstropfen, ihre Pantoffeln… als wäre sie nur kurz aus dem Raum gegangen und käme gleich wieder.

Nur ein halbes Jahr waren d’Athol und Vera verheiratet. In diesen Monaten hatten sie zurückgezogen im Palais gelebt, nur einander und ihrer Lust hingegeben. Es war ein nicht enden wollender Rausch der Liebe. Und nun? Was bleibt?

„…das entsetzliche Geschehnis trennte sie; ihre Arme hatten sich voneinander gelöst. Welcher Schatten hatte ihm seine Geliebte genommen? Tot? Nein. Stirbt denn die Seele eines Cellos im Aufschrei einer zerspringenden Saite?“

Seite 40 aus Villiers de L’Isle-Adam, „Vera“, 12 Seiten, übersetzt: hier keine Angabe, evtl. von Hanns Heinz Ewers, in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Graf d’Athol kann sich nicht mit dem Verlust abfinden, er ist in seiner Einbildung weiter mit seiner geliebten Vera zusammen.

Meine Leselampe KW 44 - Vorschau

Ihr Tod scheint aus seinem Gedächtnis und seinem Bewusstsein zu schwinden und er zieht sich ganz zurück, um weiter mit seiner Frau zu leben.

(Bild rechts: Stefan Keller/Pixabay)

Der Graf entlässt die gesamte Dienerschaft bis auf den zuverlässigen und vertrauten Raymond. Ihn weist er an, die notwendigen Dienste für die Gräfin und ihn zu verrichten.

Weiterhin muss für zwei gekocht und serviert werden, der Graf liest seiner Gattin vor, plaudert mit ihr beim Tee, spaziert mit ihr in dem alten Park, schenkt ihr Blumen zum Namenstag – er versucht alles, um Vera zu überzeugen, dass sie nur glaube, tot zu sein.

„Durch den tiefen, allmächtigen Willen des Grafen d’Athol, der kraft seiner Liebe das Leben und die Gegenwart seiner Frau in diesem einsamen Palais erschuf, hatte dieses Dasein schließlich einen düsteren, zwingenden Reiz angenommen.“

Seite 43 aus Villiers de L’Isle-Adam, „Vera“, 12 Seiten, übersetzt: hier keine Angabe, evtl. von Hanns Heinz Ewers, in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Tatsächlich, nach einem Jahr des Wahns ist Veras Stimme immer öfter zu hören, ein Schimmer von ihrem Kleid zu sehen, schwach und flüchtig erklingt ein Klavierakkord, Wirklichkeit und Traum scheinen ineinander verwoben,

"Vera"

bis eines Abends der Graf und seine Frau wieder in einem Kuss, in einer leidenschaftlichen Umarmung vereint zu sein scheinen.

(Bild links: Brigitte makes custom works from your photos, thanks a lot/Pixabay)

Doch wie lange kann die Imagination eines Menschen als lebendiges Wesen im Hier und Jetzt existieren?

Reicht der kurze, unbedachte Moment – in dem der Graf sich kurz der Realität bewusst wird – aus, um ein Jahr wahnhafter Beschwörung zu zerstören?

„Vera“ – mein Fazit

Noch einmal mit dem geliebten, verstorbenen Menschen sprechen, ihn noch einmal sehen oder gar auferstehen lassen – das ist eine uralte Sehnsucht oder manchmal auch Angst der Menschheit.

In Totenkulten werden seit Jahrtausenden Riten praktiziert, um Verstorbene zurück zu holen oder zu befragen. Im Gegensatz dazu existierte aber auch schon immer die Furcht vor unheilbringenden Wiedergängern, die die Lebenden heimsuchen und vernichten.

Das waren zwei starke Motive für die Schauergeschichten des 19. Jahrhunderts, unterlegt mit der nur uns Menschen aufgebürdeten Angst vor dem eigenen Ende und was danach geschehen mag.

Villiers de L’Isle-Adam beschwört in „Vera“ die Sehnsucht nach dem für immer Entschwundenen und entwirft eine Szenerie düster-beklemmender Besessenheit.

So überzeugend schildert er die unbeirrbare Ansicht des Grafen d’Arthol, seine Frau lebe noch, dass ich seine Vorstellung stellenweise fast geteilt hätte, wie auch der getreue Raymond mit der Zeit den Wahn seines Herrn übernimmt und in ihm lebt.

Warum sollte nicht aus einer Idee ein lebendiges Wesen werden?

In die Bilder, die Villiers de L’Isle-Adams in „Vera“ kreiert, werden die Leser förmlich hereingezogen und es ist gut, dass wir am Ende vom Autor abrupt „herausgeworfen“ und in die Wirklichkeit entlassen werden.

Der Horror entsteht – wie in „Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman -> https://www.meineleselampe.de/viktorianisches-halloween-2/ – durch das „Verrutschen“ der Psyche aufgrund einer persönlich nicht zu ertragenden Situation.

„Vera“ ist fein nuanciert geschrieben, die Szenerie mit dunkel-romantischen Elementen ausgeschmückt und die Spannung lässt Villiers de L’Isle-Adam genussvoll langsam anschwellen.

Ich habe die Kurzgeschichte von Anfang bis Ende fasziniert und ohne Pause durchgelesen. Tut es einfach auch!!

„Vera“ – mein Lese-Exemplar

Villiers de L’Isle-Adam, „Vera“, 12 Seiten, keine Angabe zum Übersetzer (evtl. Hanns Heinz Ewers), in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Oder Ihr findet „Vera“ direkt in „Grausame Geschichten“ von Villiers de L’Isle-Adam:

„Vera“ – Quellen und Weblinks

Links zu Villiers de L’Isle-Adam, nochmals zusammengefasst:

Links zu Baudelaire und Mallarmé:

#Anzeige: Der mit einem * gekennzeichnete Link oder ein Link, in dem das Wort Amazon auftaucht, ist ein sogenannter Affiliate Link. Als Amazon-Partner verdiene ich eine Provision, wenn über diesen Link ein Einkauf zustande kommt. Für Dich entstehen dabei keine Mehrkosten. Wo, wann und wie Du ein Produkt kaufst, bleibt natürlich Dir überlassen.

Vera