Bis zur Adventszeit wird es recht „blutrünstig“ und „sensationsgierig“ auf Meine Leselampe. Wie angekündigt -> https://www.meineleselampe.de/und-halloween-meine-leselampe-vorschau-kw-44/, widme ich mich einigen Katastrophen und/oder Klatschgeschichten der viktorianischen Zeit, die die Menschen damals beschäftigten und die Schattenseiten des Lebens im Empire widerspiegeln.
Inhalt
Schlagzeilen in England – Einleitung
Im 19. Jahrhundert war es nicht viel anders als heute: wenn aus ihren Headlines das Blut nur so tropfte, garantierte das gewissen viktorianischen Zeitungen und Magazinen hohe Verkaufszahlen. Deren Berichterstatter waren auf der steten Jagd nach Katastrophen, Morden, häuslichen Dramen und Skandalen jedweder Art… Und davon gab es mehr als genug für die sensationslüsterne Klientel.
Denn die Fortschritte durch die Industrielle Revolution brachten nicht nur Vorteile mit sich – als England im 19. Jahrhundert zur führenden Wirtschaftsmacht aufstieg, blieben viele auf der Strecke. So stellte der Staatsmann und Schriftsteller Benjamin Disraeli [1] fest, es gäbe zwei Nationen im Land: eine der Reichen und eine der Armen. Beide Seiten stünden kaum miteinander in Kontakt [2].
Wenn man bedenkt, wie viele Menschen allein in London in Armut lebten, ja, dahin vegetierten,
wie viele Kinder unter härtesten Bedingungen arbeiten mussten
(Bild links: PublicDomainArchive/Pixabay)
und wie vielen Frauen nichts anderes übrig blieb, als sich zu prostituieren, verwundert es nicht, dass die Zahl der Verbrechen stetig anwuchs. Die wohlhabenden Bürger mieden Stadtteile des Elends und der Kriminalität wie das Londoner East End geflissentlich.
In der Arbeitswelt kam es durch Unwissenheit und/oder Gleichgültigkeit häufig zu tödlichen Unfällen und Erkrankungen.
Denn es gab weder Arbeits-, Hygiene- noch Umweltschutzmaßnahmen.
(Bild rechts: Pete Linforth/Pixabay)
Und auch Sicherheitsmängel an Bauwerken oder technischen Konstrukten führten oft zu verheerenden Unglücken. All diese schrecklichen Vorkommnisse und Gegebenheiten waren ein gefundenes Fressen für die Vertreter des Boulevard-Journalismus.
Zum Auftakt meiner kleinen Serie über die Schlagzeilen der viktorianischen Epoche beginne ich (nervenschonend) mit einer zwar tragischen Geschichte, die jedoch ein menschliches und heroisches Verhalten schildert: die des Edmund Emery, der eigentlich Charles Edward Emery [3] hieß.
Schlagzeilen in England – Kapitel 1: Selbstlose Aufopferung
Der 23-jährige Charles Edward Emery war am 31. Juli 1874 auf einem Dampfboot auf der Themse unterwegs, als er sah, wie ein an der Böschung des Flusses spielendes Kind ins Wasser stürzte. Emery sprang beherzt von Bord, um das Kind zu retten, hatte aber wohl die Flut unterschätzt. Er wurde vom Wasser mit gerissen und ertrank. Seine Leiche wurde abgetrieben und erst einige Stunden später geborgen. Ein anderer Mann, wahrscheinlich ein Besatzungsmitglied des Dampfers, auf dem Emery als Passagier mitgefahren war, konnte das Kind retten.
Emery hatte als Künstler (ich nehme mal an, als Zeichner oder Karikaturist) für „The Illustrated London News“ gearbeitet. Das Blatt rief am 9. August 1874 in einem Artikel über die tragisch verlaufene Rettungsaktion zu Spenden für den invaliden Vater und andere Angehörige des Verstorbenen auf, die dieser nun nicht mehr wie bisher unterstützen konnte.
Charles Edward Emery ist nicht vergessen,
wie für viele andere Helden des Alltags wurden auch für ihn Gedenkkacheln am „Denkmal für heroische Selbstaufopferung“ angebracht – leider mit falschem Namen!
(Bild links: Andrew Martin/Pixabay)
Das Denkmal findet sich im Postman’s Park im Zentrum Londons, unweit der St. Paul’s Kathedrale. Es wurde 1880 vom viktorianischen Maler und Bildhauer George Frederic Watts [4] errichtet.
Schlagzeilen in England – Quellen und Weblinks zum 1. Kapitel
[1] über Benjamin Disraeli selbst -> https://www.deutschlandfunk.de/vor-200-jahren-wurde-benjamin-disraeli-geboren-100.html
[2] zu Benjamin Disraelis Aussage -> https://de.wikipedia.org/wiki/One-Nation-Konservatismus
[3] über Charles Edward Emery -> https://www.london-walking-tours.co.uk/postmans-park/edmund-emery.htm
[4] über George Frederic Watts -> https://de.wikipedia.org/wiki/George_Frederic_Watts
Schlagzeilen in England – ein Lese-Tipp zum 1. Kapitel
Wenn Ihr Euch für den viktorianischen Politiker und Schriftsteller Benjamin Disraeli interessiert, der mit seinen treffenden und ironischen Bemerkungen oft selbst für Schlagzeilen sorgte, kann ich Euch eine Biographie des Lion-Feuchtwanger-Enkels Edgar Feuchtwanger empfehlen:
Feuchtwanger, Edgar, „Disraeli. Eine politische Biographie“, 235 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter, erschienen 2012 bei Duncker & Humblot, Berlin.
Am kommenden Freitag berichte ich auf Meine Leselampe weiter über dramatische Schlagzeilen, die den ViktorianerInnen seinerzeit das Blut in den Adern gefrieren ließ…
Schlagzeilen in England – Kapitel 2: Tödliche Schaulust
Ein Wanderzirkus kommt in der Stadt!!!
Es war damals nicht anders als heute: war etwas Besonderes geboten, fand ein Ereignis außerhalb des Alltäglichen statt, strömten Alt und Jung an den Schauplatz des Geschehens. Menschenmassen auf engem Raum – das barg und birgt (wie wir es leider auch heutzutage immer wieder erleben) große Risiken.
Wir schreiben den 2. Mai 1845.
„Cooke’s Royal Circus“ [1] gastiert in Great Yarmouth in Norfolk. Die Werbeplakate verheißen eine Attraktion: Der König der Clowns, Arthur Nelson, werde in einem Waschbottich, gezogen von vier Schwänen, den Fluss Bure hinauf schippern!
(Bild links: Werbeplakat des Cooke’schen Royal Circus, erstellt am 1. Januar 1845/Wikipedia, gemeinfrei)
Das musst Du doch gesehen haben!!! Sagten sich Tausende und eilten an diesem 2. Mai ans Flussufer des Bure und auf die Brücke, um dem Stunt beizuwohnen, der mit dem Einsetzen der Flut ab ca. 17 Uhr beginnen sollte. Auf dem südöstlichen Teil der Hänge-Brücke sollen etwa 300 bis 400 Menschen gestanden haben, trotzdem blieb genügend Platz, um Fuhrwerke passieren zu lassen. Man sollte meinen, die Brücke dürfte demnach nicht überladen gewesen sein, doch wie sich später herausstellte, war sie es [2].
Und so geschah es: gegen 17 Uhr 40 gab ein Element der südlichen Aufhängungskette offenbar nach, das Konstrukt soll noch fünf Minuten gehalten haben, dann riss die Kette und die Menschen rutschten halt- und hilflos in den Fluss Bure.
Die tragische Bilanz der viktorianischen Schaulust kombiniert mit menschlichem Versagen: 79 Tote. 59 Opfer waren Kinder unter 13 Jahren, das jüngste gerade mal 2 Jahre alt. Mangelhaft ausgeführte Schweißnähte wurden als Ursache des Unglücks ermittelt. Vielleicht haben auch nachträgliche Verbreiterungen der Fahrbahn ihren Teil dazu beigetragen, denn von ihrer ursprünglichen Konstruktion her war die Yarmouth-Hängebrücke für wesentlich weniger Fuhrwerksverkehr und schon gar nicht solche Menschenmengen ausgelegt worden. Doch diese Erkenntnisse machten die Toten nicht wieder lebendig!
Die Clownsnummer war sowieso nur ein Trick, der Waschbottich war mittels eines Taues, das unter Wasser lag und nicht gesehen werden konnte, mit einem Ruderboot verbunden, das in unverdächtiger Entfernung blieb und so den Clown in seinem Holzfass mitsamt der Schwäne zog [3] .
An das Unglück und seine Opfer erinnern in Great Yarmouth heute eine Blaue Plakette [4] sowie ein granitenes Denkmal in Buchform.
Schlagzeilen in England – Quellen und Weblinks zum 2. Kapitel
[1] über „Cooke’s Royal Circus“ -> https://en.wikipedia.org/wiki/Cooke%27s_Royal_Circus
[2] über den Hergang des Unglücks und die technischen Details -> https://en.wikipedia.org/wiki/Yarmouth_suspension_bridge
[3] der Trick des Clowns -> https://en.wikipedia.org/wiki/Yarmouth_suspension_bridge
[4] was ist eine Blaue Plakette (im United Kingdom)? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Blue_Plaque
Schlagzeilen in England – ein Lese-Tipp zum 2. Kapitel
Es gibt ein interessantes, englischsprachiges Buch über Arthur Nelson, der im viktorianischen Zeitalter als König der Clowns galt und über die Welt des Zirkus in jener Epoche:
Davies, Gareth HH, „The Clown King: Popular Entertainment 1840-1860“, 182 Seiten, erschienen 2015 bei CreateSpace Independent Publishing Platform.
Und passend zum Buch gibt es diese Website: http://ammoodle.org/theclownking.
Schlagzeilen in England – Kapitel 3: Verheerende Bierflut
So sah sie um ca. 1800 aus: die Londoner „Horseshoe Brewery“, die vierzehn Jahre später zum Schauplatz oder besser gesagt Ausgangspunkt einer unfassbaren Katastrophe werden sollte: der Londoner Bierflut [1].
Die Brauerei, eine Zweigniederlassung der „Meux & Co Brewery“, lag an der Tottenham Court Road, inmitten eines der elendsten und gefährlichsten Slums Londons: der „St. Giles Rookery“ [2]. Hier hausten Menschen in völlig überfüllten, zum Teil baufälligen Häusern, in Kellern oder auf der Straße – stets heimgesucht von Hunger, Ratten und Seuchen. Prostitution, Mord, Diebstahl, Schlägereien und Trunkenheit waren an der Tagesordnung.
Der sozialkritische Maler William Hogarth (1697-1764) [3] hat die elenden Verhältnisse in dieser Gegend in seiner weltberühmten Gravur „Gin Lane“ schon im Jahre 1750/51 dargestellt.
Der hier abgebildete Druck der Hogarth’schen „Gin Lane“ ist eine Neugravur aus der Zeit um 1806 bis 1809 von Samuel Davenport (1783-1867) [4].
(Bild links: Hogarth, Davenport/Wikimedia Commons, gemeinfrei)
Die „Horseshoe Brewery“ braute das dunkle, überaus beliebte Porter. Da dieses Bier eine Lagerzeit von zwei Jahren benötigte, ließ man es – um des lieben Profites und der hohen Nachfrage halber – in riesengroßen Fässern gären und reifen.
Am 17. Oktober 1814 geschah es: an einem der riesigen 22 Fuß [5] hohen Bierfässer in der „Horseshoe Brewery“ soll einer der gigantischen Eisenringe, die die Fässer umspannten, gerissen sein. Das Fass platzte auf und es ergossen sich auf einen Schlag über 600.000 Liter Bier. Der Druck und die Wucht der plötzlich freigesetzten Biermassen zerstörten weitere Fässer, Mauern und Fenster der Brauerei. In einer mehrere Meter hohen Flutwelle ergossen sich insgesamt 1,5 Millionen Liter Porter in und über das Armenviertel [6]. Vier Häuser stürzten unter dem Druck der Flutwelle zusammen, acht Frauen und Kinder wurden in den Trümmern zu Tode gequetscht oder ertranken.
Einige der Opfer wurden öffentlich aufgebahrt, viele Londoner, die sonst das Viertel St. Giles mieden, kamen dorthin und spendeten für die Opfer und die Hinterbliebenen. Nach einer Untersuchung der Vorfälle des 17. Oktobers wurde das Unglück als höhere Gewalt eingestuft. Die Brauerei kam mit einem blauen Auge davon und entging dem Konkurs, denn sie musste keinerlei Entschädigungen bezahlen und erhielt sogar noch die auf das Bier vorausgezahlte Verbrauchsteuer zurück [7].
Schlagzeilen in England – Quellen und Weblinks zum 3. Kapitel
[1] über die Londoner Bierflut -> https://de.wikipedia.org/wiki/Londoner_Bier-%C3%9Cberschwemmung
[2] über die St. Giles Rookery -> https://landmarksinlondonhistory.wordpress.com/2017/12/06/st-giles-rookery-the-lost-london-landmark/
[3] über William Hogarth -> https://www.blog.der-leiermann.com/william-hogarth/ und https://www.blog.der-leiermann.com/kategorie/bildende-kunst-barock/
[4] über Samuel Davenport -> https://www.royalacademy.org.uk/art-artists/name/samuel-davenport
[5] 22 Fuß sind laut Umrechnungstabelle ca. 6,7 Meter!!! -> https://www.england.de/grossbritannien/britische-masse-gewichte
[6] einige Zahlen zu den Ausmaßen der Bierflut -> https://kraftbier0711.de/Geschichte-des-Bieres/die-londoner-bierflut/
[7] aufgebahrte Opfer, Entschädigung -> https://www.history.com/news/the-london-beer-flood-200-years-ago
Schlagzeilen in England – ein Lese-Tipp zum 3. Kapitel
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, werde es mir aber besorgen, da mich die historischen Schauplätze und Ereignisse in London interessieren…
Cathy Ross & John Clark, „London: The Illustrated History“, Taschenbuch, 352 Seiten, Sprache: Englisch, erschienen 2011 bei Penguin.
Das war es nun mit meiner kleinen Schlagzeilen-Reihe aus dem 19. Jahrhundert! In der Adventszeit stelle ich auf Meine Leselampe Weihnachtslektüre vor, natürlich mit Bezügen zur oder direkt aus der viktorianischen Epoche.
In der kommenden Woche wird es der Sammelband des Leiermann-Verlages sein: „Weihnachtliche Kulturgeschichten – ein Streifzug durch Europa“. Ich habe einen Beitrag beigesteuert über die englische Weihnacht und die viktorianischen Wurzeln vieler Bräuche. Rein hören könnt Ihr morgen Abend,
denn da lesen einige AutorInnen und Autoren online aus ihren weihnachtlichen Geschichten vor (ich auch…)
Es wäre schön, wenn Ihr vorbei schaut, wie gesagt, 19 Uhr, Zutritt über diesen Link direkt zur „Leiermann-Lesereihe“: https://t.co/eLytMTKx8l.