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»Die Meeresläufer«: die viktorianischen Zutaten
»Die Meeresläufer. Eine Road Novel aus England«: Flott, witzig, sehr modern und warum erscheint dieser Roman auf dem überwiegend viktorianisch angehauchten Blog Meine Leselampe? Nun, weil er gut geschrieben und perfekt als Lektüre für den Urlaub geeignet ist und gleichzeitig als Reiseführer durch die englischen (darunter auch die den Touristen unbekannteren) Seebäder dienen kann.
In der viktorianischen Epoche waren die britischen Seebäder zunächst beim erholungssuchenden Adel sehr beliebt. Ab Mitte es 19. Jahrhunderts zog es auch die Mittelschicht und die Arbeiterfamilien ans Meer – die Eisenbahn machte es ihnen möglich. Eine Attraktion der Seebäder waren und sind die grandiosen weißen Hotelbauten und die Piere, die in jener Epoche dort so zahlreich errichtet wurden! Definiere Pier: in England bezeichnet das eine ins Meer herausragende Seebrücke auf Eisen-, Holz-, Stahl-, oder Beton-Pfählen, an der die Schiffe anlegen können [1]. Es sind ihrer 61, wenn ich richtig gezählt habe … [2].
Ein sehr beliebtes touristisches Ziel ist und war »Brighton Pier«, schon der viktorianische Schriftsteller William Makepeace Thackeray (1811-1863) verewigte ihn in seinem Roman »Die Newcomes« (1855):
»Der Seesteg, wie jedermann weiß, läuft unerschrocken in das Meer hinaus, das manchmal bei schönem Wetter mit lächelnden Wellchen um seine Füße plätschert und dann wieder an stürmischen Tagen brüllend und schäumend über seine Flanken stürzt. Hier kannst du für zwei Pence zur See fahren und über dieses riesige Deck spazieren, […]. Du kannst beobachten, wie die Sonne prachtvoll über Worthing untergeht oder mit aufsteigender Herrlichkeit die Dünen und Hügel von Rottingdean bestrahlt.«
Thackeray, William Makepeace, Die Newcomes, Berlin, 1983, Bd. 1, S. 149.
Und auch in »Die Meeresläufer« (angesiedelt im Jahre 2008) von Neuzeit-Autorin Martina Weyreter darf auf der Seebäder-Tour ihrer Hauptdarstellerin Kendra die Seebrücke in Brighton nicht fehlen oder die Piere von Blackpool oder die Seebrücke in Skegness in Lincolnshire, die Kendra mit nostalgischer Wehmut definiert und betrachtet:
»Die Seebrücke macht es sich zur Aufgabe, trotzig und stolz in die Wellen hinein zu ragen und dann einfach aufzuhören. Sie führt nirgendwo hin. Und dafür wird sie lebenslänglich bestraft: Das Salzwasser frisst sich in ihre Poren, bis sie aussieht wie eine runzlige alte Lady; gelegentlich hat auch mal ein Ausflugsdampfer Schwierigkeiten mit dem Anlegen und mäht einen Teil der Seebrücke dabei um.
Obendrein fühlt sich so mancher Engländer beim Anblick morscher Bretterstege aus dem viktorianischen Zeitalter – komplett mit schmiedeeisernen Geländern, hölzernen Pavillons und verschnörkelten Türmchen – auf unwiderstehliche Art verführt, ein Streichholz anzureißen und einfach mal zu gucken, was passiert. Hier in Skegness war es bloß eine Sturmflut, die klarmachen wollte: Ich bin das Meer, hier geht es nicht mehr weiter, bleib an Land, mein Revier ist deine Grenze. Seitdem hat die runzlige Lady nur noch ein Drittel ihrer früheren Länge. Es muss weh getan haben.«
Weyreter, Martina, Die Meeresläufer, Bremen, 2024, S. 11/12.
Die Seebrücke von Skegness war im 19. Jahrhundert 562 Meter lang. Sie wurde am 4. Juni 1881 eröffnet, 19.000 Besucher kamen damals zu dem Ereignis, meist per Dampfschiff. Nach und nach wurden ein Theater und ein Konzertpavillon darauf errichtet, um den viktorianischen Besuchern mehr als nur Meer zu bieten.
Heute sind von der Seebrücke nach mehreren Stürmen und Schiffskollisionen nur noch 118 Meter übrig, die mittlerweile (und fortwährend) liebevoll restauriert wurden und werden. Und auch der Vergnügungsbetrieb ist wieder in vollem Gange. [3]
Bei den Beschreibungen der Seebäder, ihrer Brücken und weiterer Sehenswürdigkeiten wie dem ebenfalls dem viktorianischen Bauboom entsprungenen Blackpool Tower (1894) mit seinem stuckverzierten Ballsaal und den kristallenen Lüstern (die 37 x 31 Meter große Tanzfläche aus Mahagoni-, Eichen- und Walnussholz dient noch immer als Austragungsort verschiedenster nationaler und internationaler Tanzmeisterschaften) merkt man sofort, dass Martina Weyreter jeden einzelnen Ort selbst besucht hat. Und damit ihr fundiertes Wissen um diese Orte nicht trocken rüberkommt, hat sie es in eine turbulente Road-Novel gepackt.
»Die Meeresläufer«: eine turbulente Road-Novel
Kendra, frisch gebackene Anglistin aus Frankfurt und Journalistin eines Reisemagazins, soll mit dem Fotografen Karl einen Reisebericht über die englischen Seebäder schreiben. Das läuft anfangs planmäßig, bis die beiden ausgerechnet in Skegness – ich schreibe ausgerechnet, weil Kendra den Ort für ihr Journal als »ideal für Senioren mit Mobilitätseinschränkung« einstuft – auf die Indie-/New Wave-Band »The Nevers« treffen. Kendra verliebt sich in den Lead-Sänger Jack:
»Der Typ, der da ins Mikrofon schrie, hatte weißen Puder im Gesicht und schwarz geschminkte Augen mit tonnenweise Mascara. Er kreischte, jaulte und vereinzelt sang er auch, strich wieder und wieder sein zerrauftes schwarzes Haar zurück und starrte Löcher in eine imaginäre Ferne.«
Weyreter, Martina, Die Meeresläufer, Bremen, 2024, S. 20.
Als ich diese Stelle gelesen hatte, sah ich eine Mischung aus T. Rex und Johnny Rotten vor mir … Ach, lang, lang ist’s her! Zurück zum Geschehen des Romans »Die Meeresläufer«. Von nun an geraten der journalistische Zeitplan und die Erfüllung der Auftragsarbeit ins Wanken – stattdessen gibt es jede Menge Sex, Drugs and New Wave.
Kendra und Karl reisen Jack und »The Nevers« hinterher, denn auch Karl, obwohl daheim mit einer reichen Karrierefrau verlobt, hat sich in Jack verguckt. Jack erhört beide und das führt zu Tränen und Verdruss. Umrandet wird die Dreiecksgeschichte von jeder Menge größerer und kleinerer Katastrophen: Kendra fackelt in Cleethorpes fast den Nachtclub auf der Seebrücke ab, das Auto gibt den Geist auf und Kendra und Karl reisen mit einem Trödelhändler und Nahezu-Kunstdieb weiter. Irgendwann landen »The Nevers« im Knast, Kendra und Karl verlieren ihren Job und für alle Beteiligten scheint die Lage ausweglos …!
Kann es bei soviel Irrungen und Wirrungen überhaupt ein Happy End für Liebe und Karriere geben? Das verrate ich nicht und ich plaudere auch nicht aus, was denn nun eigentlich »Meeresläufer« sind. Wie immer gilt: am besten lest Ihr den Roman selbst. Nächtigt mit Kendra und Karl in kleinen Pensionen, in denen es nur stundenweise fließend Wasser, dafür aber Hosenbügler auf den Zimmern gibt. Lasst Euch zum Frühstück Pommes und in deren Fett frittiertes Brot servieren. Kostet in den Seebädern die »Rocks« (raffiniert hergestellte Zuckerstangen), unternehmt eine Fahrt in einem der Riesenräder und genießt die prachtvolle Lampion-Beleuchtung an den Uferpromenaden. Ich garantiere, es wird Euch auf keinen Fall langweilig. Und Ihr werdet Martina Weyreters England lieben.
»Die Meeresläufer«: über die Autorin
Martina Weyreter wurde 1966 in Eltville am Rhein geboren. Sie studierte und lebte lange Zeit in England, mittlerweile ist die Englischdozentin in Frankfurt am Main sesshaft (sofern es sie nicht gerade wieder einmal über den Ärmelkanal nach Großbritannien zieht). Mit »Die Meeresläufer« hat Martina Weyreter ihren ersten Roman vorgelegt – nach zahlreichen Kurzgeschichten, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind.
Die Anthologie »Wellenlängen«, die sie und ihre MitautorInnen der Friedrichsdorfer Schreibwerkstatt kurzum verfasst haben,
hatte ich bereits 2021 auf Meine Leselampe vorgestellt -> https://www.meineleselampe.de/buchtitel/wellenlaengen/. 2016 gehörte Martina Weyreter zu den Preisträgern des Stockstädter Literaturwettbewerbs: Spezialpreis Humor.
»Die Meeresläufer«: mein Leseexemplar
Weyreter, Martina, »Die Meeresläufer. Eine Road-Novel aus England«, 260 Seiten, Edition Falkenberg, 2024.
»Die Meeresläufer«: mein Dankeschön
Herzlich bedanken möchte ich mich beim Verlag Edition Falkenberg für mein kostenlos zur Verfügung gestelltes Rezensionsexemplar und bei der Autorin Martina Weyreter für die Hintergrundinformationen, die sie mir hat zukommen lassen.
»Die Meeresläufer«: Quellen und Hintergründe
[1] Vgl. Wikipedia, Seebrücke, 28.2.2023, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Seebr%C3%BCcke&oldid=231344045 [13.6.2024]
[2] Vgl. Wikipedia, List of Piers in the United Kingdom, 7.2.2024, online: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_piers_in_the_United_Kingdom [16.6.2024]
[3] National Piers Society, Skegness, online: https://piers.org.uk/piers/skegness/ [13.6.2024]