„Ein Vampir“ – zur Einleitung

Schweiz, 1816: in diesem Sommer regnet und gewittert es in Europa und vielen Ländern der Welt ständig und ergiebig, die Tage sind dunkel und trüb, Hungersnöte und Seuchen breiten sich aus – die Folge eines Vulkan-Ausbruchs in Indonesien ein Jahr zuvor.

Die Laune der kleinen illustren Gesellschaft, die mit dem Dichter Lord Byron in der Villa Diodati am Genfer See weilt, sinkt von Tag zu Tag. Unter Hunger leidet hier niemand, jedoch unter Langeweile – man ist ans Haus gefesselt. Byron, sein Leibarzt und Freund John Polidori, Percy Bysshe Shelley, dessen Geliebte und spätere Ehefrau Mary Wollstonecraft Godwin sowie deren Stiefschwester Jane (Claire) Clairmont versuchen sich mit Schauergeschichten die Zeit zu vertreiben. Erst liest man aus Werken anderer Autoren, dann schlägt Lord Byron vor, jeder solle selbst über etwas Gruseliges schreiben.

Diese historische Runde kennen wir aus Filmen wie „Gothic“ (1986 von Ken Russell) oder „Mary Shelley“ (2017 von Haaifa Al-Mansour) -> https://www.meineleselampe.de/fernsehtipp-mary-shelley/ .

Dank eines Vulkanausbruchs und schlechten Wetters wurden am Genfer See Werke der Weltliteratur entworfen:

Ein Vampir

der Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ von Mary Wollstonecraft Shelley und die Gothic Novel „Ein Vampir“ von John Polidori.

(Bild links: ykaiavu/Pixabay)

„Ein Vampir“ – zum Inhalt

Aubrey ist ein junger und wohlhabender Mann. Seine Eltern sind früh gestorben, er und seine Schwester wurden von Pflegeeltern aufgezogen. Die kümmerten sich wohl vorbildlich um die Verwaltung des Erbes, aber weniger um die geistige Erziehung der jungen Leute. Daher ist Aubrey recht weltfremd, als er in der Londoner Gesellschaft seinen Platz einnimmt:

„Er hegte jene überschwänglichen, romantischen Vorstellungen von Ehre und Aufrichtigkeit, die Tag für Tag so manchen Putzmacherlehrling ruinieren. Er glaubte, alle Menschen seien tugendhaft und das Laster wäre von der Vorsehung nur geschaffen worden, um die Weltszenerie bunter zu gestalten, wie es den Romanen entspricht.“

Seite 8, John Polidori, „Ein Vampir“, 23 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampir-Geschichten, herausgegeben von K.B. Leder, Bertelsmann, Gütersloh, s.u.

So nimmt es nicht wunder, dass der naive Aubrey von Lord Ruthven, einem unnahbar wirkenden Edelmann, der in der Londoner Gesellschaft Aufsehen erregt, fasziniert ist. Die blicklosen Augen und die Blässe Ruthvens, dessen Zurückhaltung in allen Dingen, empfindet der weltfremde Aubrey als romantisch. Als der junge Mann erfährt, dass Ruthven eine Reise plant, schließt er sich diesem an.

Nun kann Aubrey seinem Idol nah sein und Ruthven kennenlernen. Bald folgt die Ernüchterung, Aubrey erkennt befremdet eine vermeintliche Änderung in Ruthvens Verhalten: der Lord spendet großzügig, jedoch nur an verkommene Subjekte, er treibt an Spieltischen Familien in den Ruin, er kommt jungen unerfahrenen Mädchen zu nah. Ein Brief seiner Pflegeeltern erreicht Aubrey, sie warnen ihn vor Ruthven. Nach seiner Abreise aus London sei bekannt geworden, wie viele Frauen und junge Mädchen er ins Unglück gestürzt habe, Aubrey solle sich von ihm fernhalten.

Aubrey trennt sich von Ruthven und reist allein nach Griechenland weiter. Hier untersucht und skizziert er die antiken Altertümer des Landes, begleitet von der jungen Ianthe. Ihre ungekünstelte Schönheit, ihre naive Lebensfreude und ihre Unverdorbenheit gefallen Aubrey, er verliebt sich in sie. Ianthe erzählt Aubrey oft von Vampiren, die ihr Unwesen treiben und dass jeder, der nicht an sie glaube, ihnen zum Opfer falle. Diese Geschichten entlocken Aubrey nur ein Lächeln.

Kurz darauf möchte Aubrey einen längeren Forschungsausflug machen. Ianthe und ihre Eltern warnen ihn vor einem Waldgebiet auf seiner Strecke, dort trieben nach Einbruch der Dunkelheit Vampire ihr Unwesen!!! Er müsse auf jeden Fall rechtzeitig zurück reiten. Aubrey nimmt den Vampir-Glauben nach wie vor nicht ernst und bricht frohgemut auf.

Seine Ausgrabungen beschäftigen ihn so, dass er sich zu spät auf den Heimweg macht und den Wald erreicht, als es dunkel wird und ein Gewitter aufzieht. Blitz und Donner erschrecken Aubreys Pferd, es scheut und galoppiert durch die Bäume. Vor einer Hütte bringt Aubrey sein Tier zum Stehen und will um Hilfe nachfragen, da hört er die gellenden Schreie einer Frau. Er rennt in die Hütte, um zu helfen. Eine Gestalt stürzt sich auf ihn, wirft ihn zu Boden und würgt ihn.

Ein Vampir

Just in diesem Moment naht Hilfe, Männer mit Fackeln vertreiben den Unhold. Auf dem Boden der Hütte findet Aubrey die blutüberströmte Leiche Ianthes, die Kehle zerbissen – von einem Vampir?

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

Schreck und Trauer sitzen tief, Aubrey bekommt hohes Fieber und verfällt in ein Delirium. Böse Träume von Ruthven und Ianthe quälen ihn. Als er nach Tagen zu sich kommt, sieht er zu seinem Erstaunen Lord Ruthven an seinem Krankenbett. Ruthven pflegt ihn aufmerksam und fürsorglich und Aubrey fasst wieder Vertrauen zu dem früheren Reisegefährten.

Sobald Aubrey gesund ist, reisen die beiden gemeinsam weiter durch Griechenland. Nach dem tragischen Tod Ianthes sucht Aubrey wie Ruthven die Einsamkeit. Er ist geistig ermattet und in sich versunken und ihm fällt nicht auf, dass Ruthven wieder in seine kalte Missachtung der Menschen verfällt.

Eines Tages werden Aubrey und Ruthven in einer Schlucht aus dem Hinterhalt von Räubern überfallen, Ruthven wird schwer verletzt, seine Wunde entzündet sich, ihm ist nicht mehr zu helfen. Kurz vor seinem Tod nimmt er Aubrey einen Schwur ab: ein Jahr soll Aubrey über Ruthvens Tod und seine bösen Handlungen schweigen, egal, was passiert. Aubrey leistet den Eid, nicht ahnend, welche Folgen das haben wird.

Am nächsten Morgen ist Ruthvens Leichnam verschwunden. Aubrey ist Griechenland nun gänzlich verleidet und er reist zurück nach England. Düstere Erinnerungen und Vorahnungen plagen ihn und einige Entdeckungen erhärten seinen Verdacht, Ruthven könne ein Vampir sein.

In England findet Aubrey in Gesellschaft seiner liebevollen Schwester wieder zu sich selbst, bleibt aber melancholisch. Seine Pflegeeltern möchten Miss Aubrey offiziell in die Gesellschaft einführen, lustlos begleitet Aubrey seine Schwester nach London.

Auf einem Ball beobachtet Aubrey das bunte Treiben, da flüstert hinter ihm plötzlich eine Stimme und erinnert ihn an seinen Eid. Aubrey fährt entsetzt zusammen, kurz darauf sieht er den totgeglaubten Ruthven in der Menge. Aubrey ist zutiefst erschüttert und verwirrt.

Ein Vampir

Doch einige Abende später glaubt er auf einem Empfang wieder Ruthven zu sehen und die flüsternde Stimme zu hören. Panisch verlässt Aubrey mit seiner Schwester das Haus des Gastgebers.

(Bild links: Gordon Johnson/Pixabay)

Von nun an ist Aubrey völlig verändert. Er schließt sich in seinem Zimmer ein oder wandert ziellos durch die Straßen Londons. Der Gedanke, wegen seines Schwurs nichts gegen Ruthven unternehmen zu können, treibt Aubrey fast in den Wahnsinn, er wird immer apathischer. Seine Pflegeeltern rufen einen Arzt, der kann Aubrey jedoch nicht helfen.

Als die von Ruthven auferlegte Schweigefrist sich ihrem Ende nähert, lebt Aubrey langsam wieder auf. Sein Vormund besucht ihn und verkündet ihm die frohe Nachricht, dass Aubreys Schwester heiraten wird, einen Earl of Marsden. Auch seine Schwester darf nun zu Aubrey kommen. Voll der Vorfreude auf ihre Hochzeit zeigt sie ihm ein kleines Bildnis ihres Verlobten und Aubrey erkennt – Lord Ruthven… Kann er seine Schwester vor dem Schicksal Ianthes bewahren?

„Ein Vampir“ – über den Autor

John William Polidori wurde 1795 in London geboren und starb dort 1821 – vermutlich durch eigene Hand. Ihn quälten Depressionen und ein großer Berg Schulden…Ganz sicher weiß man es bis heute nicht. Dabei fing seine Karriere verheißungsvoll an.

Polidori studierte an der Universität von Edinburgh Medizin, promovierte schon mit 19 Jahren und wurde 1816 der persönliche Leibarzt des Dichterfürsten Lord Byron. Die beiden Männer freundeten sich an, damals munkelte man sogar von einer Affäre der beiden.

Wie dem auch sei, gemeinsam reisten Polidori und Byron durch Europa, nicht zuletzt, um diversen Gläubigern und Skandalen zu entkommen. Von Byrons Verlegern hatte Polidori den Auftrag, Byrons Reise ohne dessen Wissen zu dokumentieren – natürlich gegen Bezahlung. Das passte Polidori, der selbst literarischen Ehrgeiz hatte, gut. Auf eine günstige Gelegenheit hoffend, hatte er auch ein Manuskript seines Dramas im Gepäck. Doch als sich wegen des anhaltend schlechten Wetters die Gelegenheit bot und Polidori der Genfer Runde daraus vorlas, erntete er nur Spott.

Dafür schrieb er an Byrons Fragment einer Gespenstergeschichte weiter und baute sie unter dem Titel „Ein Vampir“ zur ersten modernen Vampirerzählung aus. Polidoris Vampir, Lord Ruthven, ähnelt in Aussehen und Charakter offenbar Lord Byron:

„Er blickte auf die ihn umgebende Ausgelassenheit herab, als dürfe er nicht daran teilhaben. […] Sein Gesicht zeigte stets eine totenähnliche Blässe, die nie einer wärmeren Farbe wich, denn weder errötete er aus Bescheidenheit noch aus leidenschaftlichen Gefühlen heraus, obwohl er ansonsten edle Gesichtszüge besaß.“

Seite 7, John Polidori, „Ein Vampir“, 23 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampir-Geschichten, herausgegeben von K.B. Leder, Bertelsmann, Gütersloh, s.u.

Als Byron und Polidori sich im Herbst des „Jahres ohne Sommer“ trennten, kehrte Polidori nach einem Italien-Abstecher nach England zurück. Byron blieb im Ausland, er sah England nie wieder.

1819 erschien in „The New Monthly Magazine“ die Erzählung „Ein Vampir“ – jedoch unter Byrons Namen. Beide, Polidori und Byron versuchten, die Sache richtig zu stellen, vergebens. Der Name Byron war eben zugkräftiger als der eines John William Polidori. Erst im 20. Jahrhundert wird die Gothic Novel „Ein Vampir“ unter Polidoris Namen erscheinen.

Polidori verfasste noch ein Gedicht: „The Fall of the Angels“ (wiederum basierend auf Byron’scher Grundlage), erlebte dessen Veröffentlichung nicht mehr. Ein bitteres Résumé: kein Ruhm zu Lebzeiten für Dr. John William Polidori, weder als Arzt noch als Literat – vielleicht hat das mit zu seinem frühen Ende geführt.

„Ein Vampir“ – mein Fazit

Eine spannende Erzählung, eine vor-viktorianische Gothic Novel vom Feinsten. John Polidori schildert in „Ein Vampir“ eindrücklich die Hilflosigkeit, die Ohnmacht eines Menschen gegenüber dem Untoten, dem Vampir. Auch das Wissen um dieses Geschöpf und was es tun wird, kann das Böse nicht aufhalten, kein Verbrechen verhindern.

Die Spannung steigert sich langsam, Ahnungen verdichten sich wie bei Aubrey so beim Leser. Fast wollte ich ihm zurufen, nun brich doch Deinen Eid, Dein Schweigen, sonst ist es zu spät!!!

Ein Vampir

Als Lesender fühlt man sich so gelähmt wie Aubrey als Handelnder in der Geschichte „Ein Vampir“.

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

„Ein Vampir“ passt hervorragend zu trüben, kühlen Regentagen, an denen man der Stimmung des „Jahres ohne Sommer“ 1816 gut nachspüren kann.

„Ein Vampir“ – mein Lese-Exemplar

John Polidori: „Ein Vampir“, Erzählung, 23 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampirgeschichten, herausgegeben von Karl Bruno Leder, erschienen 1968 bei Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh. Bis Halloween stelle ich daraus noch zwei viktorianische Gothic Novels vor.

(Ist eine modernere Ausgabe als meine…)

„Ein Vampir“ – Quellen und Weblinks

Mehr zu Polidori, Vampiren und die „Genfer Runde“ findet Ihr im Web unter anderem

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