„Der Fall Valdemar“ – Einleitung

Kurzgeschichten und Erzählungen wie „Die Maske des roten Todes“, „Der Untergang des Hauses Usher“, Das Fass Amontillado“ oder die Dichtung „Der Rabe“ (Nimmermehr!!!!!) – die kennen auch diejenigen unter uns, die nicht ausgesprochene Edgar-Allan-Poe-Fans sind. Auf Meine Leselampe stelle ich daher heute „Der Fall Valdemar“ (oder auch in anderer Übersetzung als „Die Tatsachen im Fall Valdemar“) aus dem Jahr 1845 vor.

Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe ist in seinem literarischen Schaffen vielfältig wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen. Er gilt als Meister phantastischer, grotesker, bizarrer Schauer- und Todesvisionen und hat gleichzeitig nüchterne, sehr logisch strukturierte und äußerst analytische Detektivromane kreiert, teilweise gekonnt beides miteinander verwoben. So zum Beispiel in „Der Fall Valdemar“.

Der Originaltitel „The Facts in the Case of M. Valdemar“ verrät, wie raffiniert Poe der Kurzgeschichte zu Popularität verholfen hat.

Er legte seinen Fall Valdemar als vermeintlichen Tatsachenbericht an und veröffentlichte ihn in einer Zeitschrift. Erst später gestand Poe, „Fake News“ in die Welt gesetzt zu haben. Einfallsreiches Marketing.

„Der Fall Valdemar“ – zum Inhalt

Poe tritt wieder einmal als Ich-Erzähler auf und leitet seinen „Tatsachenbericht“ mit Ausführungen über sein Studium der Thesen Mesmers und seine Experimente auf dem Feld des (animalischen) Magnetismus ein (Infos zum Magnetismus, bzw. den Arzt Mesmer auf Meine Leselampe unter: Fernsehtipp: „Licht“+Info über Mesmer).

Indem Poe Menschen berührt oder mit der Hand Energie-Striche über ihren Körper zeichnet, versetzt er sie in Trance oder heilt ihre Gebrechen. Viele Experimente hat er auf diesem Gebiet schon absolviert, ihm fehlt nun noch die Erfahrung, wie Sterbende auf die Hypnose reagieren. Ein Bekannter, Ernst Valdemar, ist unheilbar an Tuberkulose erkrankt und hat Poe gestattet, ihn beim Sterben zu „magnetisieren“. 24 Stunden vor seinem Ableben will er eine Nachricht schicken.

Valdemars Todesstunde rückt näher, Poe erhält wie verabredet von seinem Freund ein Schreiben, er möge bitte kommen, die Ärzte hätte ihn aufgegeben, das Ende des morgigen Tages werde er nicht mehr erleben. Poe eilt zu Valdemar, der von der Tuberkulose stark gezeichnet ist, geistig jedoch klar und seltsamerweise körperlich kräftig wirkt. Zwei Ärzte sind bei ihm, sie verabschieden sich nun, wollen auf Poes Bitte hin drei Stunden später noch einmal vorbeisehen. Ein Medizinstudent, den unser Erzähler flüchtig kennt, nimmt zu Poes Erleichterung wenig später den Platz der Ärzte ein. Er kann als Zeuge für das Einverständnis Valdemars dienen, sollte bei dem Experiment etwas schief gehen.

Poe versetzt Valdemar mit magnetischen Strichen allmählich in einen Tiefschlaf, die zurückgekehrten Ärzte bestätigen bei ihrer Rückkehr den Zustand. Einige Stunden später testet Poe die Muskelfunktion der kalten und steifen Gliedmaße und fragt den wie tot daliegenden Valdemar, ob er schlafe. Valdemar antwortet, ja, er schlafe und schlafend möge man ihn sterben lassen. Noch einige Male befragt Poe den Sterbenden, der kaum hörbar antwortet: er habe keine Schmerzen, er schlafe – sterbe.

Einige Stunden später verdrehen sich Valdemars Augen, sein Unterkiefer klappt zurück, die Lippen öffnen sich und die Anwesenden sehen eine angeschwollene, schwarz verfärbte Zunge – Exitus. Poe, der Medizinstudent und die Ärzte wollen sich gerade vom Totenbett zurückziehen, da bewegt sich die fürchterlich anzusehende Zunge zitternd im Mund, sie hören eine grauenhafte Stimme und die Worte: er habe geschlafen, jetzt sei er tot.

Liegt Ernst Valdemar in magnetischem Schlaf oder ist er tot? Sein Atem steht still, sein Blut zirkuliert nicht mehr in seinen Adern, aber seine zuckende schwarze Zunge bringt noch Worte hervor, wenn auch kaum hörbar. Poe und die behandelnden Ärzte entscheiden, Valdemar in seinem Todesschlaf ruhen zu lassen, stets von Wärtern umgeben und beobachtet. Nach sieben Monaten endlich wagen sie den Versuch, Valdemar zu erwecken.

Und nun folgt eine grausige und qualvolle Szene: Poe zieht magnetische Striche über dem Körper, Valdemars Augäpfel bewegen sich, eine stinkende eitrige Flüssigkeit läuft unter den Lidern hervor. Unbeeindruckt fragt Poe Valdemar, wie es ihm gehe, welche Wünsche er habe. Die entsetzliche Stimme des Schlafenden?, Toten? ertönt: Poe solle ihn erwecken oder in Schlaf versetzen, schnell, er sei tot…….

Poe fährt in fieberhafter Eile fort mit seinen magnetischen Strichen – da zerfällt unter seinen Händen der Körper Valdemar und fault und verwest in Sekundenschnelle zu einer breiigen Masse.

„Der Fall Valdemar“ – mein Fazit

„Der Fall Valdemar“ ist ein Fall für starke Nerven. Edgar Allan Poe beschreibt den Anblick und die Gerüche des Verfalls sehr plastisch, die Phantasie braucht nicht mehr viel ergänzen, um ein ziemlich genaues Bild vom verwesenden Valdemar zu konstruieren. Durch den sachlichen Einstieg mit wissenschaftlicher Beschreibung der Fakten erweckt Poe beim Leser den Eindruck, einen Zeitungsartikel über Tatsachen vorliegen zu haben. Das spektakulär schaurige Ende befriedigte die Sensationslust des Publikums und sorgte damals für Aufsehen. Gelungene Fake News – solcher Techniken bedienen sich manche Medien heute noch mit großem Erfolg. (Nein, keine Namen, weiß eh jeder)

Aufgebaut ist „Der Fall Waldemar“ auf Poes ganz eigene Art: die Geschichte entwickelt sich wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird, langsam aber stetig an Umfang zunimmt, bis er bedrohlich anschwillt und platzt. „Peng“ – die Erzählung endet abrupt, kein Kommentar, keine Erklärung,  keine „Ausleitung“ – einfach Schluss. Gefällt mir persönlich sehr, kein unnötiges Bla Bla bla, das den Schluss ja doch nur zerfasern würde. Dafür beginnen die Geschichten oft mit etwas zu viel Bla-Bla-Bla, will sagen: für meinen Geschmack pustet Poe seinen Ballon etwas zu langatmig auf.

Die Kurzgeschichte „Der Fall Valdemar“ habe ich in dem Buch: Edgar Allan Poe – „Phantastische Geschichten“ gelesen, genau wie „Der Mord in der Spitalgasse“ ->  E.A.Poe: „Der Mord in der Spitalgasse“).

Den Band kann ich empfehlen, denn er zeigt die Bandbreite Poes: analytische Detektivgeschichten mit einer Prise „Mystery“ („Das Geheimnis um Marie Rogets Tod“), Übernatürliches mit einem Hauch von Märchen („Die Maske des Roten Todes“), psychologische Betrachtungen über das Böse und Verbrecherische („Der Geist des Bösen“, „Der Mann der Menge“), über Schuld und Wahnsinn („Das verräterische Herz), über Todesqualen und Todesangst („Die Scheintoten“).

Der Fall Valdemar

Nicht zu vergessen: das romantisch-dramatische Gedicht „Der Rabe“!!!

(Bild rechts: Martin Seher)

Edgar Allan Poe spielt geschickt mit den Gefühlen, die wir haben, aber meist nicht zulassen wollen und verdrängen. Genial erfühlt und beschreibt er (und geht darin auf) unsere Alpträume und den Wahnsinn, der in sich logisch und unlogisch zugleich ist und der vielen menschlichen Entscheidungen und Taten zugrunde liegt. Diese  26 Geschichten und Erzählungen Edgar Allan Poes in dem Buch „Phantastische Geschichten“ kann ich denen empfehlen, die sich auf besondere Art gruseln möchten.

„Der Fall Valdemar“ – mein Lese-Exemplar

E.A. Poe, „Phantastische Geschichten“, Sammlung (26 Erzählungen und Gedichte), 397 Seiten, übersetzt von Hans Wollschläger („Der Rabe“) und A. Möller-Bruck, erschienen 1981 im Verlag Lothar Borowsky, München.

Hier ein neueres Exemplar mit Poes Kurzgeschichten: „Unheimliche und Phantastische Geschichten“, Dünndruck-Exemplar, 1632 Seiten, erschienen 2020 im Anaconda Verlag.

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