Inhalt
»Onkel Silas« – Einleitung
»Onkel Silas« aus dem Jahr 1864 ist eines der bedeutendsten Werke des irischen Schriftstellers Joseph Sheridan LeFanu.
Der viktorianische Kriminalroman mit gespenstischen Elementen wurde von zeitgenössischen Kritikern gern als Sensationsroman bezeichnet – sehr zum Missvergnügen LeFanus -> https://www.meineleselampe.de/ein-dunkler-spiegel-der-wirklichkeit/.
»Onkel Silas« – über den Autor
Joseph LeFanu wurde als Sohn eines Geistlichen 1814 in Dublin geboren. Den Namen Sheridan fügte er später hinzu, in Erinnerung an seinen Großonkel Richard Brinsley Sheridan, einem bekannten englischen Lustspieldichter des 18. Jahrhunderts.
Wie manche seiner Schriftstellerkollegen studierte er zunächst ohne große Ambitionen Rechtswissenschaften, um sich danach dem Journalismus zuzuwenden.
Literarisch versuchte sich LeFanu zunächst an irischen Volksliedern und Balladen, die blieben jedoch unbeachtet.
»Onkel Silas« oder »Das verhängnisvolle Erbe« wurde von Wilhelm Semmelroth 1977 als Zweiteiler für das ZDF verfilmt. Das Drehbuch schrieb Herbert Asmodi.
Mehr Erfolg hatte LeFanu mit Gespenstergeschichten, seine erste, »The Ghost and the Bone Setter«, veröffentlichte er 1838 im »Dublin University Magazine« (das er einige Jahre später erwarb und herausgab).
1839 folgte »A Passage in the Secret History of an Irish Countesse« (u.a. in »Der Schwarze Vorhang«, vorgestellt auf Meine Leselampe unter -> https://www.meineleselampe.de/der-schwarze-vorhang/).
Diese Geschichte erschien 1851 nochmals unter dem Titel »The Murdered Cousin« in dem Band »Ghost Stories and Tales of Mystery«, 1864 machte Sheridan LeFanu aus der Geschichte den Kriminalroman »Onkel Silas«.
Viele Jahre versuchte er sich in verschiedensten literarischen Gattungen und gab mehrere Zeitungen und Magazine heraus.
1844 heiratete LeFanu, seine Frau Susanna und er bekamen zwei Töchter und zwei Söhne. Auch in der Ehe teilt er das Schicksal einiger Kollegen: seine Frau wurde depressiv, litt unter Ängsten und ‚hysterischen‘ Zuständen. 1858 starb sie ganz plötzlich.
Sheridan LeFanu brauchte einige Jahre, um ihren Tod zu verkraften, er lebte zurückgezogen, interessierte sich für die Lehren des schwedischen Naturwissenschaftlers, Erfinders, Mystikers und Geistersehers Emanuel Swedenborg (1688-1772). LeFanu übernahm dessen Glauben von einer übernatürlichen Welt, die mit dieser eng verbunden ist (sehr vereinfacht ausgedrückt).
1861 hatte Sheridan LeFanu dann seinen Stil und seine Themen gefunden: Kriminalromane, in denen er das reale Verbrechen mit Elementen des Übernatürlichen kombinierte sowie Gespenstergeschichten.
Bis zu seinem Tod 1873 schrieb LeFanu 14 Romane und 40 Erzählungen, darunter seine weltweit bekannt gewordene Geschichte über eine (lesbische) Vampirin: »Carmilla« (1872) und – nicht minder berühmt – »Onkel Silas«.
»Onkel Silas« – der Inhalt
Die Geschichte beginnt düster und beklemmend, Maud Ruthyn schildert einen Abend mit ihrem Vater auf Gut Knowl.
»Es war Winter, etwa die zweite Woche im November, und starke Windstöße rasselten an den Fenstern und wehklagten und wetterten in unseren hohen Bäumen und den efeubedeckten Schornsteinen.«
Joseph Sheridan LeFanu, „Onkel Silas“, 537 Seiten, in „Bibliotheca Dracula“, Band 3, Seite 9, 1980 Zweitausendeins, s.u.
Maud ist 17 Jahre alt, ihre Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Sie lebt mit ihrem Vater, Austin Ruthyn, allein auf Gut Knowl, zur Gesellschaft hat sie die Haushälterin Frau Rusk und ihr Mädchen Marie Quinz. Ab und zu besucht ein Dr. Bryerly ihren Vater, er flößt Maud große Scheu ein.
Austin Ruthyn hat den Verlust seiner wesentlich jüngeren Frau nicht verkraftet, lebt seitdem zurückgezogen und widmet sich der Forschung und den mystischen Theorien Swedenborgs. Zudem bedrückt ihn die Lebensführung und das Schicksal seines Bruders Silas.
Maud kennt den Onkel nur von einem Porträt, das ihn als jungen und gutaussehenden Mann zeigt. Einige Andeutungen über ihn hat sie vom Dienstpersonal aufgeschnappt, bis der Vater auch das unterband.
Erst beim Besuch ihrer älteren, lebenslustigen Cousine Monica erfährt Maud von ihr und ihrem Vater mehr über Onkel Silas. Er war in seiner Jugend ein Spieler, bekannt für seinen exzessiven und liederlichen Lebenswandel. Vor Jahren kam auf seinem Anwesen in Bartram-Haugh einer seiner Gäste, dem Silas viel Geld schuldete, ums Leben. Silas stand unter Mordverdacht, da der Tote jedoch in einem von innen verschlossenen Zimmer gefunden wurde, ging man offiziell von Selbstmord aus.
Mauds Vater ist von der Unschuld seines mittlerweile fromm und einsiedlerisch lebenden Bruders überzeugt, Cousine Monica nicht, sie spricht es aber nicht offen aus.
Damit Maud nicht länger allein ist und weil er bald eine »Reise« antreten muss, engagiert der Vater eine Gouvernante für seine Tochter. Madame de la Rougierre erschreckt und stößt Maud vom ersten Moment an ab.
»Mit einem Mal stand auf dem Rasen vor mir eine sonderbare Gestalt – eine sehr große Frau in grauen Gewändern […] und verbeugte sich tief und ganz phantastisch. […] sobald es gewiss war, dass ich sie gesehen, begann das graue Weib schrillend zu plappern und zu quaken….«
Joseph Sheridan LeFanu, „Onkel Silas“, 537 Seiten, in „Bibliotheca Dracula“, Band 3, Seite 30, 1980 Zweitausendeins, s.u.
Auch die Dienstboten mögen Madame nicht, Cousine Monica macht erschreckende Andeutungen und warnt Maud vor ihr.
Madame de la Rougierre benimmt sich seltsam launisch und sie verleumdet Maud und die Dienstboten beim Herrn des Hauses. Auf einem gemeinsamen Spaziergang versucht Madame, Maud mit einem unsympathischen jungen Mann bekannt zu machen. Auch als Maud von mehreren Männern belästigt wird, scheint Madame ihre Hände im Spiel zu haben.
Doch immer gelingt es der Französin, den Vater auf ihre Seite zu ziehen – bis Maud sie dabei ertappt, wie sie dessen Schreibpult durchsucht. Erst da entlässt Mauds Vater die unheimliche Frau, die sich mit drohenden Worten von Maud verabschiedet.
Kurz darauf stirbt Mauds Vater. Er hat Maud, die nun eine reiche Erbin ist, bis zu ihrer Mündigkeit in dreieinhalb Jahren unter die Vormundschaft seines Bruders Silas gestellt. Sollte sie vor diesem Zeitpunkt sterben, fallen Liegenschaften und Vermögen an Silas.
Dr. Bryerly, der als Testamentsvollstrecker fungiert und Cousine Monica sind entsetzt und versuchen, die Regelung auszusetzen, vergebens. Maud ist nicht so entsetzt wie die beiden und bereit, bei Onkel Silas auf Bartram-Haugh zu leben.
In Begleitung ihres Mädchens Marie Quinz reist Maud zu ihrem Onkel. Als sie ankommen, ist es schon dunkel. Bartram-Haugh, einst ein Prachtbau umgeben von wunderschönen Anlagen, macht einen vernachlässigten und einsamen Eindruck auf Maud.
Empfangen werden sie von einer mürrischen alten Dienerin, dem Hausmeister und von Cousine Millicent, einem lauten, ungenierten und plumpen Mädchen.
Maud wird von ihrer Cousine Milly zu Onkel Silas geführt, der sich wegen seiner anfälligen Gesundheit meist in seinen Gemächern aufhält.
»Er stand auf, hoch und schlank, nur wenig gebeugt, ganz in Schwarz gekleidet. … ehrwürdig, blutlos, mit feurigen Augen und ihrem eigentümlichen beherrschenden Blick, ein nicht zu enträtselnder Ausdruck – war es eine geistige Störung oder Angst, Grausamkeit oder Geduld?«
Joseph Sheridan LeFanu, „Onkel Silas“, 537 Seiten, in „Bibliotheca Dracula“, Band 3,Seite 245, 1980 Zweitausendeins, s.u.
Onkel Silas begrüßt Maud mit ausgesuchter Höflichkeit, unterhält sich freundlich mit ihr und doch ist da eine Kälte an ihm… Über seine Tochter, die in seiner Gegenwart verschüchtert wirkt, spricht er abfällig und bezeichnet sie als ungebildet und bäuerisch. Maud merkt, dass er Milly nicht mag.
Ein wenig Angst hat Maud vor Onkel Silas, doch zunächst kann sie sich über das Leben auf Bartram-Haugh nicht beklagen. Bald merkt sie, dass die wilde Milly ein herzensguter Mensch ist, freundet sich mit ihr an und unterrichtet sie in den Dingen, die junge Damen beherrschen sollten.
Sie erkunden gemeinsam das Haus, in dem viele Korridore mit Gittern versperrt sind. Milly kennt eine geheime Treppe und führt Maud in den zweiten Stock. Dort erregt ein Zimmer Mauds Aufmerksamkeit, die fest verschlossenen Fenster blicken auf den inneren Hof des Hauses hinaus. Könnte das das Zimmer sein, in dem sich Silas‘ Gast vor vielen Jahren das Leben nahm?
Einen ersten Schrecken jagt Maud ein Angestellter ihres Onkels ein, Dickon Hawkes. Der alte einbeinige Mann bedroht sie und Milly bei einem Spaziergang und verwehrt ihnen den Durchgang zu einem umzäunten Teil des Grundstücks. Als sie eines Tages sehen, wie Hawkes seine Tochter Meg brutal verprügelt, greift Maud tapfer ein.
Sie beschwert sich bei ihrem Onkel – vergeblich. Silas stellt Hawkes als harmlosen, lediglich etwas rauen Mann vom Lande hin.
Bedrückend wirken auf Maud auch die merkwürdigen Anfälle, unter denen Onkel Silas leidet: er verfällt in einen Zustand verzerrter Starre, wirkt wie ein Toter – die Folgen seines wilden Lebens und seines hohen Opium-Konsums.
Da tut der überraschende Besuch von Cousine Monica gut, die nur einige Meilen entfernt lebt. Maud zuliebe nimmt sie die Begegnung mit Silas auf sich, dem sie misstraut und überredet ihn, dass Maud und Milly sie für ein paar Tage besuchen dürfen.
Die nächste Überraschung ist eine unwillkommene – Millys Bruder Dudley kommt auf Bartram-Haugh an und wird Maud vorgestellt. Maud erkennt in ihrem Cousin den Burschen, mit dem Madame de la Rougierre sie auf einem Spaziergang zusammenbringen wollte und der auch zu der zudringlichen Gruppe von Männern gehörte, die sie wenig später im Park von Knowl bedrängt hatte.
Dudley leugnet, ihr jemals begegnet zu sein und Onkel Silas glaubt ihm, er ist vernarrt in seinen tumben Sohn. Bald wird deutlich, dass Dudley als Ehemann für sie vorgesehen ist, er macht ihr Avancen. Maud weicht ihm aus und wehrt ihn ab, so gut sie es vermag.
Als Dudley ihr einen offiziellen Heiratsantrag macht und Onkel Silas sie bedrängt, ihn anzunehmen, stellt sich durch einen glücklichen Zufall heraus, dass Dudley längst heimlich mit einer Wirtstochter verheiratet ist. Silas verstößt seinen Sohn und schickt ihn mitsamt seiner vulgären Frau nach Amerika.
Die Verhältnisse auf Bartram-Haugh werden immer beklemmender und bedrohlicher. Onkel Silas zeigt sich unfreundlich und ungeduldig, er spricht vorwurfsvoll über seine Geldsorgen.
Mauds alte Feindin Madame de la Rougierre taucht plötzlich auf und Cousine Milly wird von ihrem Vater in eine Pension nach Frankreich geschickt, zur Vervollkommnung ihrer Manieren. Maud ist auf Bartram-Haugh ganz allein auf sich gestellt.
Recht unvermittelt erhält Maud einen Reisebefehl von ihrem Onkel, Madam soll sie zu Millicent nach Frankreich bringen – angeblich, weil Steuereintreiber erwartet werden. Die beiden Frauen brechen hastig auf und Maud ahnt nicht, wie bald sie schon wieder auf Bartram-Haugh sein wird, diesmal als Gefangene und in Lebensgefahr….
»Onkel Silas« – Fazit
Ich habe »Onkel Silas« von Anfang an mit Beklemmung gelesen. Der Beginn des Kriminalromans ist so angelegt, dass man sich schon auf Gut Knowl, bei Maud und ihren Vater, nicht behaglich fühlen kann.
Denn »Onkel Silas« beginnt in einer stürmischen Nacht mit unheimlichen Geräuschen, das Wohnzimmer liegt zur Hälfte im Dunklen, Austin Ruthyn wandert stundenlang auf und ab – ohne ein Wort an seine Tochter zu richten. Kein heimeliges Gefühl kommt auf, sondern Bedrückung und die Erwartung von etwas Bösem.
Von der ersten Seite an sind Joseph Sheridan LeFanus Figuren innerlich und äußerlich isoliert, behalten ihre Gefühle und Ängste bei sich, sondern sich in ihren abgeschotteten Häusern ab. Es kommen kaum Besucher, es gibt keine Zeugen für verbrecherische Planungen und Vorgänge.
Den intriganten Plänen der Madame de la Rougierre und den bösen Absichten des Onkel Silas will oder kann niemand etwas entgegensetzen: der Vater Mauds ist in seinem Swedenborgianertum gefangen, Cousine Monica in ihrer Rolle als Frau. Maud erscheint wie eine hilflose Spinne in einem Netz, das sich immer dichter um sie zieht und sie hält (aus Gewohnheit?) still, bis es fast zu spät ist.
Die Atmosphäre verdüstert sich so von Seite zu Seite, die Bedrohung wächst, zum Ende erscheint alles hoffnungslos. Ein Buch, das man nicht allein in dunklen Sturmnächten lesen sollte… Feinfühlig und leise inszeniertes Grauen!!!
»Onkel Silas« – Lese-Exemplar
Joseph Sheridan LeFanu, »Onkel Silas oder Das verhängnisvolle Erbe«, Kriminalroman, 537 Seiten, nach der englischen Ausgabe von 1865,
übersetzt von Michael Krüger, erschienen in Band 3 der »Bibliotheca Dracula«, Lizenzausgabe des Carl Hanser Verlags München (1972), Herausgeber Zweitausendeins 1980.
»Onkel Silas« – Quellen und Weblinks
- in Band 3 aus der Reihe »Bibliotheca Dracula« das Nachwort von Norbert Miller »Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit – Sheridan LeFanu und der viktorianische Kriminalroman)« (zum Roman »Onkel Silas«), 21 Seiten, Lizenzausgabe des Carl Hanser Verlags München (1972), Herausgeber Zweitausendeins 1980.