„Der Raritätenladen“-Charles Dickens (1840/41)

von | 07.05.2021 | Buchvorstellung

„Der Raritätenladen“ – eine Einführung

„Der Raritätenladen“ (OT: „The Old Curiosity Shop“) – nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, hielt ich den Roman beileibe nicht für das literarisch stärkste Werk des viktorianischen Autors Charles Dickens. Ich verglich ihn zum Beispiel mit „Bleak House“ https://www.meineleselampe.de/bleak-house-1/, https://www.meineleselampe.de/bleak-house-2/ oder „Oliver Twist“, die bei mir besser abschneiden. Doch nach und nach beeindruckte mich „Der Raritätenladen“ immer mehr.

Denn Charles Dickens würzt seine Geschichte um die engelsgleiche Nell, ihren Großvater, Kit und den bösartigen Quilp mit vielen Lebensweisheiten, skurrilen Figuren, Sozialkritik, Allegorien und einer großen Portion Rührseligkeit.

Viele LeserInnen haben damals um Nell gebangt und geweint, „rührende Schicksale unschuldiger Kinder und deren tragisches Ende“ war ein beliebtes Thema bei den Viktorianern. Natürlich gab es auch kritische Stimmen (vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts), die den Roman für zu sentimental befanden.

Meine Leselampe - Vorschau KW 18

Zunächst erschien „Der Raritätenladen“ von 1839 bis 1841 in der von Dickens herausgegebenen Zeitschrift „Master Humphrey’s Clock“, 1841 dann als Buch mit den wunderbaren Illustrationen von Phiz (Hablot Knight Browne, 1815-1882).

Für „Master Humphrey`s Clock“ hatte Dickens folgende Rahmenhandlung ersonnen: einige Freunde treffen sich bei Master Humphrey und er liest ihnen aus Geschichten, Essays oder Briefen vor, die er in seiner Standuhr aufbewahrt. In diese Struktur bettete Dickens Erzählungen von sich oder seinen Kollegen ein.

So erklärt sich auch der Anfang des Romans „Der Raritätenladen“ und der baldige Erzählerwechsel. Zunächst berichtet ein alter Mann, Master Humphrey, der auf seinen nächtlichen Spaziergängen durch London die Bekanntschaft von Nell macht.

Der Raritätenladen

Das Mädchen hat sich verlaufen und er geleitet sie zu dem Raritätenladen, in dem sie mit ihrem Großvater lebt. Der Großvater lädt ihn zum Dank ein, mit ihnen zu essen.

(Bild rechts: Clker-Free-Vector-Images/Pixabay)

Kit Nubbles kommt dazu, ein tolpatschiger, aber liebenswerter Junge. Kit arbeitet für Nells Großvater und ist wohl der einzige gleichaltrige Kontakt der fast vierzehnjährigen Nell. Der sanfte Vorwurf Humphreys, warum der Großvater Nell nachts unbeaufsichtigt herumlaufen lasse, löst bei dem Alten eine Flut von Beteuerungen aus, wie sehr er seine verwaiste Enkelin liebe und er alles versuche, ihr ein großes Erbe zu verschaffen.

Master Humphrey verabschiedet sich zu später Stunde von den beiden und überlässt nach dem ersten Kapitel einem allwissenden Erzähler das Feld…

„Der Raritätenladen“ – zum Inhalt

Nell und ihr Großvater leben zurückgezogen in dem Raritätenladen. Außer Kit, ihrem treu ergebenen Freund, kennt das Mädchen niemanden in ihrem Alter. Sie führt dem Großvater den Haushalt. Des Nachts ist sie oft allein, der alte Mann verlässt stundenlang das Haus, was er treibt, weiß sie nicht. Doch das Geheimnis lüftet sich auf dramatische Weise. Um seiner Enkelin dereinst viel Geld vererben und sie wohlversorgt zurücklassen zu können, versucht der Großvater sein Glück am Spieltisch.

Da er immer wieder große Summen verliert, hat er vom gemein-gefährlichen Daniel Quilp, einem missgestalteten kleinwüchsigen Mann (Dickens schreibt Zwerg – für uns politisch unkorrekt, aber Gang und Gäbe in der viktorianischen Ära und lange danach) Geld geliehen und kann es nicht mehr zurückzahlen.

Gemeinsam mit dem ihm hörigen Winkeladvokaten Sampson Brass beschlagnahmt Quilp den Laden und nistet sich dort ein. Er setzt den Großvater unter Druck, macht Nell anzügliche Anträge, verbreitet Lügen über Kit, um einen Keil zwischen ihn, Nell und ihren Großvater zu treiben. Angesichts all der Bösartigkeit regt der alte Mann sich so auf, dass er zusammenbricht und schwer krank darnieder liegt.

Körperlich erholt sich der Großvater, doch künftig ist er geistig verwirrt und hilflos wie ein kleines Kind. Nell ergreift mit ihm heimlich die Flucht. Ein Leben in der freien Natur – selbst wenn sie betteln müssten – ist ihrer Ansicht nach für sie beide besser als weiterhin mit dem bedrohlichen Quilp zu hausen.

Nachdem sie London hinter sich gelassen haben, fühlen sich beide wohl:

„Die Frische des Tages, der Gesang der Vögel, die Schönheit des wallenden Grases, das tiefe Grün der Blätter, die wilden Blumen und die tausend herrlichen Düfte und Töne, die in der Luft schwammen – (…) -, senkten sich in ihre Herzen und machten ihre Seelen freudig.“

Seite 181 aus Charles Dickens „Der Raritätenladen“, Roman, 824 Seiten, übersetzt von Leo Feld, Taschenbuch, 3. Auflage 2020, Insel Verlag Berlin.

Der Raritätenladen

Manch guten und hilfsbereiten Menschen begegnen Nell und ihr Großvater, ich will hier den alten Schulmeister nennen, der sie eine Weile bei sich aufnimmt und mit dem Nell am Sterbebett seines Lieblingsschülers wacht.

(Bild links: chiplaney/Pixabay)

Eine Zeitlang reisen Nell und der alte Mann mit der „Karawanendame“ Mrs. Jarley und deren Wachsfigurenkabinett. Sie bietet den beiden Arbeit und Logis zu fairen Bedingungen.

Leider gerät der Großvater an einige üble Burschen, die ihn zum Spiel verleiten. Er verfällt wieder in seinen Wahn, Nell ein besseres Leben zu bieten und das Geld dazu mit den Karten zu gewinnen. Er verliert alles, was die beiden sich erarbeitet haben. Damit nicht genug, er bestiehlt seine Enkelin und plant auf Drängen seiner Kumpane, Frau Jarley auszurauben.

Nell, die das zufällig mit angehört hat, lockt den Großvater wieder auf Wanderschaft, getrieben von der großen Angst, er könne zum Verbrecher werden. Und von der Furcht, seine Spielkumpane würden ihnen folgen…

Der Raritätenladen

Die beiden geraten in ein Kohlerevier (wahrscheinlich Birmingham und Umgebung) und in eine überfüllte, schmutzige, rauchige Industriestadt. Sie haben kein Geld mehr, frieren, hungern und dürsten. Ein mitleidiger Arbeiter lässt die beiden am Hochofen übernachten.

(Bild rechts von Free-Photos/Pixabay)

Auf dem Irrweg durch die zerstörte Natur der Bergbau-Gegenden geht es Nell immer schlechter. Sie ist fiebrig, ihre Füße sind wund. Niemand kann ihnen helfen, denn die Menschen hier haben selbst kaum das Nötigste. Doch Nell läuft mit ihrem Großvater klaglos weiter, sie will seine Seele retten, ihn weit weg von allen Versuchungen bringen.

Noch einmal haben sie Glück, als Nell am Ende ihrer Kräfte und sehr krank ist, treffen sie den alten Schulmeister wieder. Er ist auf dem Weg zu seiner neuen Anstellung und sorgt dafür, dass Nell in einem Wirtshaus gepflegt und aufgepäppelt wird.

Er nimmt sie und ihren Großvater mit in das Dörfchen, wo er leben und arbeiten wird. Hier wird ihnen die Unterstützung und Hilfe guter Menschen zuteil. Der Schulmeister erwirkt die Erlaubnis, dass Nell und ihr Großvater in einem alten Häuschen neben seinem unterkommen – direkt bei der Kirche und dem Friedhof. Beide Orte üben eine magische Anziehungskraft auf Nell und ihre immer stärker werdende Todesahnung und -sehnsucht aus…

Was geschieht unterdessen in London?

Nun, Quilp geht seinem größten Vergnügen nach, seine Mitmenschen, allen voran seine unterwürfige Frau, zu quälen. Und er findet neue Opfer: in Nells älterem Bruder Fritz Trent und dessen Freund Dick Swiveller, an denen er sich für ihr herablassendes Verhalten rächen will.

(Bild links: OpenClipart-Vectors/Pixabay)

Fritz glaubt, dass sein Großvater heimlich ein großes Vermögen hortet, dass allein seiner Schwester zukommen soll. Er überredet seinen naiven und leichtlebigen Freund Dick, auf seine große Liebe Miss Cheggs zu verzichten und stattdessen Nell zu heiraten und ihre Erbschaft mit ihm zu teilen. Quilp unterstützt diese Pläne, redet Dick gut zu und tut, als wolle er den beiden helfen, Nell zu finden.

Um Dick Swiveller unter Kontrolle zu halten, bringt er ihn in der Kanzlei bei Sampson Brass und seiner Schwester Sally unter. Bruder und Schwester sind durch und durch böse mit einem Unterschied: wo Sally hart und kalt vorgeht, agiert Sampson kriecherisch und einschmeichelnd. Eigentlich ist Sally das perfekte Pendant zu Quilp.

Dick Swiveller freundet sich heimlich mit dem Dienstmädchen der Geschwister Brass an. Das kleine Mädchen, das keinen Namen hat und nicht weiß, wie alt es ist, wird wie ein Tier im Keller gehalten. Dick hat Mitleid mit ihr, nennt sie „Marquise“, bringt ihr zu essen und lehrt sie Karten spielen. Seine Gutmütigkeit wird ihm einst das Leben retten… und Kit vor dem Schlimmsten bewahren.

Denn auch Kit, mittlerweile bei dem Ehepaar Garland angestellt, hat sich den Zorn Quilps zugezogen. Dabei hätte Kit sorgenfrei leben können. Gewiss, er sehnt sich nach Nell, aber bei den Garlands hat er eine gute Anstellung, ja, eine zweite Familie gefunden und kann seine Mutter und seine zwei kleinen Brüder finanziell unterstützen. Und Barbara, die wie er bei den Garlands arbeitet, ist ihm sehr zugetan!

Doch als Quilp eines Tages seine Mutter ängstigt, beschimpft Kit ihn zornig als Ungeheuer und hässlichen Zwerg – nun muss er das büßen. Mit tatkräftiger Hilfe der Geschwister Brass schiebt Quilp dem ehrlichen Kit einen Diebstahl unter. Obwohl seine Mutter, die Garlands, Dick Swiveller und viele seiner Freunde und Gönner an seine Unschuld glauben, wird Kit zur Deportation verurteilt.

Und dann ist da noch der ledige Herr, der sich bei Sampson und Sally Brass eingemietet und sich im Laufe der Zeit mit Dick Swiveller, Kit und den Garlands bekannt gemacht und befreundet hat. Er sucht erst allein, dann mit ihrer Hilfe im ganzen Land nach Nell und ihrem Großvater. Denn er hat gewichtige Gründe, die beiden aufzuspüren…

Wie das alles ausgeht – lest es selbst!

„Der Raritätenladen“ – mein Fazit

Typisch Dickens – er verknüpft viele Handlungsstränge und Schicksale miteinander. Eine Zeit begleiten wir Nell und ihren Großvater, lernen wie die beiden Mitmenschlichkeit und Glück, Elend und Angst kennen und erleben, wie Nell im Rauch, Schmutz und Elend der Kohlereviere körperlich zusehends verfällt.

Zwischendurch eilt Dickens mit uns immer wieder zurück nach London, wo Quilp seine widerwärtigen Pläne vorantreibt, Dick Swiveller sich vom Hallodri zum verantwortungsbewussten Mann entwickelt und sich eine Allianz der Guten bildet, die Kit helfen, Nell finden und Quilp unschädlich machen wollen.

Und wie im Märchen werden am Ende die Bösen bestraft, die Helfer belohnt und die Familiengeschichte Nells enthüllt.

Und Nell – sie findet ihre eigene Art des Glücks, jedoch anders, als die viktorianischen LeserInnen (und vielleicht auch wir) nach langem Bangen erhofft hatten.

(„Spoiler“-Bild rechts: Richard Mcall/Pixabay)

Den Roman „Der Raritätenladen“ als Rührstück zu bezeichnen, wäre zu oberflächlich abgetan. Der Dickens-Kenner Hans-Dieter Gelfert spricht in seiner Biographie „Charles Dickens, der Unnachahmliche“ (Verlag C.H.Beck, München 2011) von einem „musikalisch komponierten Prosagedicht“ und er hebt hervor, dass die Sprachgewalt Dickens das Abrutschen in einen Kitschroman verhindert (Seite 106). So empfinde ich das auch.

Dickens verknüpft in „Der Raritätenladen“ den Kontrast zwischen Unschuld und Verderbtheit mit der Kritik an den sozialen Missständen und der Zerstörung der Natur durch die Industrielle Revolution. Er lockert die Handlung mit Humor (wenn teilweise auch recht schwarzem) auf und er singt das Loblied auf unbeirrbare Treue und moralische Festigkeit. Kurzum: die geneigten LeserInnen finden die ganze Bandbreite der Dickens’schen Themen und Anliegen und daher kann ich Euch dieses Buch mit bestem Gewissen empfehlen…

(Aber „Bleak House“ ist dennoch einen ganz kleinen Ticken genialer!!)

„Der Raritätenladen“ – meine Lese-Exemplare

Charles Dickens, „Der Raritätenladen, Roman, 824 Seiten, übersetzt von Leo Feld, Taschenbuch, 3. Auflage 2020, Insel Verlag Berlin.

Charles Dickens, „The Old Curiosity Shop“, 623 pages, with original illustrations by Phiz, Macdonald& Co (Publishers) Ltd., London, 1950.

„Der Raritätenladen“ – Quellen und Weblinks

  • Hans-Dieter Gelfert, „Charles Dickens, der Unnachahmliche“, Biographie, 375 Seiten, Verlag C.H.Beck, München 2011

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