„Allgemeine Familienzeitung“ und Dickens

„Allgemeine Familienzeitung“ (oder „Allgemeine Familien Zeitung“, die Schreibweise variiert) und Dickens – damit meine ich ein gerahmtes Bild dieses Journals mit einem Porträt von Charles Dickens, das nicht nur ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für mich als Dickens-Fan war, der dazugehörige Artikel lieferte mir darüber hinaus neue Informationen.

Und es macht einfach Freude, den Schreibstil, die elegant-betulichen Formulierungen der vergangenen Zeiten zu lesen.

„Allgemeine Familienzeitung“ und Dickens – Einleitung

Die „Allgemeine Familienzeitung – Chronik der Gegenwart“, wurde von 1869 bis 1875 vom Verlag Hermann Schönlein in Stuttgart wöchentlich herausgegeben (nach meinen Recherche-Ergebnissen). Demnach erschien die Ausgabe Nummer 8 in der Woche vom 21. – 27. Februar 1870 [1].

AbonnentInnen mussten vierteljährlich einen rheinischen Gulden und drei Kreuzer [2] bezahlen, so ist es – kleingedruckt – vermerkt.

Gleichermaßen unterhalten und belehren wollte die Zeitschrift/Zeitung. Auf der Titelseite prangt ein Porträt von Charles Dickens mit dem Verweis auf Seite 115, umrahmt von der Fortsetzung und dem gleichzeitigem Ende der Erzählung „Die Unzertrennlichen“ der Schriftstellerin Fanny Lewald [3].

Allgemeine Familienzeitung und Dickens

Die „Allgemeine Familienzeitung“ und ihr Titelblatt der Ausgabe Nr. 8, Jahrgang 1870.

(Foto mit freundlicher Genehmigung von www.BillerAntik.de, dort wurde das Bild auch gerahmt)

„Allgemeine Familienzeitung“ und Dickens – über Dickens

In Deutschland war Charles Dickens offenbar ebenso ein Star wie in seiner Heimat Großbritannien, glaubt man dem unbekannten Redakteur (siehe Zitat in Viktorianische Zeilenreise -> )

Der Verfasser des Artikels sieht Dickens als einen

Viktorianische Zeilenreise 22/KW 13...goes Presse!

„sogen. selfmade man, wie die meisten bedeutenderen Persönlichkeiten des heutigen Großbritanniens.

Er entstammt dem Volke, dieser ewigen Quelle der Verjüngung des Talents und Genie’s; er hat im Schweiße seines Angesichts und aus eigenen Mitteln sich seine Stellung geschaffen und ein neues Gebiet der Literatur eröffnet, das viele Nachahmer hervorgerufen, aber bis jetzt noch keinen ihm ebenbürtigen Meister in der Charakter- und Sittenzeichnung, in der vollendeten Anmuth der Darstellung, in der Köstlichkeit und Naivität seines wirksamen, ewig heitern Humors geliefert hat.“

aus dem Artikel über Charles Dickens, Seite 115 in „Allgemeine Familienzeitung“ Nr. 8, 1870.

Es folgt eine blumige und recht großzügig angelegte Schilderung des Werdens, Seins und Wirkens des viktorianischen Autors, auf die ich nicht im Einzelnen und chronologisch eingehen möchte, ich picke mir einige Highlights heraus.

Herrlich liest sich die Beschreibung des Vaters von Dickens,

“ (…) eines niedern Marinebeamten, der mehr mit Kindern als Erdengütern gesegnet war, und den der Besen des Schicksals mehrfach bald da~ bald dorthin fegte (…)“.

aus dem Artikel über Charles Dickens, Seite 115 in „Allgemeine Familienzeitung“ Nr. 8, 1870.

Hält er die Romane des Charles Dickens generell für „formvollendet, künstlerisch durchgebildet und einem höheren ethischen Zwecke dienend“, zeigt unser Redakteur sich etwas unzufrieden mit den Romanen „Dombey und Sohn“ (1847), „David Copperfield“ (1849-50) sowie „Klein Dorrit“ (1855). Ihm missfällt, dass Dickens hier zum Humor das Element des Sensationellen hinzufügt, das passe nun gar nicht zusammen. Mit der Einschätzung bin nun wiederum ich nicht einverstanden, aber die „Geschmäcker“ sind eben verschieden.

Beifall spendet der Artikelschreiber zwei Zeitungen, die Dickens ins Leben gerufen hatte: die politisch unabhängige Tageszeitung „Daily News“ [4], mit der Dickens schon nach kurzer Zeit finanziell scheiterte und die sozial-kulturelle Zeitschrift „Household Words“ [5]. In ihr habe Dickens Missbräuche der britischen Verwaltung und Justiz bloßgestellt und soziale Missstände mit „frischem Humor“ angeprangert:

„(…) und seine eigenen Beiträge zu jener Zeitschrift gehören unbedingt zu den besten kleineren Arbeiten von Dickens und zu dem Gediegensten und Mustergiltigsten was die Literatur der Zeitungsbeiträge aufzuweisen hat.“

aus dem Artikel über Charles Dickens, Seite 115 in „Allgemeine Familienzeitung“ Nr. 8, 1870.

Die soziale Seite des viktorianischen Autors hat es unserem Zeitungsredakteur überhaupt angetan, er lobt, dass Dickens 1850 zur Unterstützung verarmter Schriftsteller und Künstler „The Guild of Literature and Art“ [6] ins Leben gerufen und mit seinen Vorträgen, Lesungen und Schauspielaufführungen Geld gesammelt habe.

Ich habe ein bisschen recherchiert*, weil ich diese Dickens’sche Unternehmung noch nicht kannte: Schriftstellerkollege und Freund Edward Bulwer-Lytton unterstützte Dickens bei diesem Vorhaben, indem er eine Komödie schrieb, die Dickens‘ Theatertruppe aufführte. Sogar Queen Victoria und ihr Gemahl Albert geruhten huldvoll, sich das Stück anzusehen.

(*und stieß anfangs auf Schwierigkeiten: der unbekannte Redakteur nennt den Verein in seinem Artikel fälschlicherweise kurz und knapp „Literary Guild“. Der Begriff führte mich bei meiner Recherche zunächst in die Irre, denn heute steht er für nationale Buchclubs in den USA.)

Kommen wir zum Ende des Artikels, wo der Verfasser feststellt, dass Dickens mit all seinen Vortragsreisen durch Großbritannien, Nordamerika und Irland sein Werk noch populärer gemacht und den eigenen Lebensabend finanziell abgesichert habe.

Ein weiterer Roman aus Dickens Feder wird den LeserInnen angekündigt – da wir das Jahr 1870 schreiben, Dickens Todesjahr, er starb am 9. Juni – dürfte es sich um den unvollendet gebliebenen Kriminalroman „Das Geheimnis des Edwin Drood“ handeln. Doch das allles weiß unser Redakteur jetzt im Februar noch nicht.

Sein Fazit über Dickens am Endes des Artikels fällt überschwänglich aus, sehr berechtigt, meine ich. Lediglich, dass er Dickens vorwirft, aufgrund seines weichen und menschenfreundlichen Gemüts die Bösewichter schemenhaft oder zu positiv dazustellen, halte ich für falsch.

Dafür unterschreibe ich den letzten Satz des Artikels:

„Und eben in der aus vollem Herzen quellenden Menschenliebe, in der aus einem humanen, mitfühlenden, unverbitterten Gemüthe entspringenden empirischen Menschenkenntniß wurzelt der unbeschreibliche realistische und gemüthlich ansprechende Reiz seiner Dichtungen, deren Wirkung sich Niemand entziehen kann und dem wir in seiner Gesammtheit keinen deutschen Autor zur Seite zu stellen imstande sind.“

aus dem Artikel über Charles Dickens, Seite 115 in „Allgemeine Familienzeitung“ Nr. 8, 1870.

Da wird sich Fanny Lewald gefreut haben, deren Geschichte „Die Unzertrennlichen“ die „Allgemeine Familienzeitung“ ja gerade abgedruckt hatte.

„Allgemeine Familienzeitung“ und Dickens – mein Fazit

Fantastisch, dieser Artikel von 1870. Elegant gedrechselte Schachtelsätze, überladen mit Adverbien und Adjektiven, dazu ein Hauch Pathos, eine Prise Moral – ja, es war eben eine andere Epoche und ein anderer literarischer Stil wurde gepflegt. Und vermutlich nahmen sich die Leserinnen und Leser mehr Zeit für ihre Lektüre, es gab keine anderen ablenkenden Medien.

Allgemeine Familienzeitung und Dickens

Und so mutet selbst ein Zeitungsbericht gemütlicher (fast hätte ich es mit „th“ geschrieben) und seelenvoller als die heutigen an.

(Bild links: no-longer-here/Pixabay)

Zwar musste ich manchmal ein wenig schmunzeln, doch der hektischen Neuzeitseele tut die schöpferische Geruhsamkeit des unbekannten Redakteurs gut.

Ein herrliches Geschenk…

„Allgemeine Familienzeitung“ und Dickens – Quellen und Weblinks

#Anzeige: Der mit einem * gekennzeichnete Link oder ein Link, in dem das Wort Amazon auftaucht, ist ein sogenannter Affiliate Link. Als Amazon-Partner verdiene ich eine Provision, wenn über diesen Link ein Einkauf zustande kommt. Für Dich entstehen dabei keine Mehrkosten. Wo, wann und wie Du ein Produkt kaufst, bleibt natürlich Dir überlassen.