Inhalt
„Die Glocken“ – Einleitung
„Die Glocken“ – „The Chimes“ (OT) im gleichnamigen Weihnachtsmärchen von Charles Dickens läuten das alte Jahr aus und ein neues Jahr ein.
Weihnachten ist vorüber, das alte Jahr legt sich zum Sterben nieder, ein neues Jahr wird in Kürze geboren – so betrachtete Charles Dickens den Jahreswechsel.
1844 veröffentlichte er sein viktorianisches Weihnachtsmärchen: „Die Glocken. Eine Gespenstergeschichte von einigen Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten“.
„Die Glocken“ sind im Gegensatz zu „Ein Weihnachtslied in Prosa“-> https://www.meineleselampe.de/ein-weihnachtslied-in-prosa/ eher eine Neujahrsgeschichte…
(Bild links: Momentmal/Pixabay)
„Die Glocken“ – erstes Viertel (der Stunde?)
Der alte Toby Veck ist klein, mager, armselig gekleidet, eine traurige Gestalt. Ob seiner sehr eigenwilligen Art des Gehens wird er Trotty gerufen. Bei Wind und Wetter wartet Toby/Trotty auf Kundschaft, deren Briefe oder andere Lieferungen er auf Zuruf befördert.
Sein bevorzugter Standplatz ist in der Nähe einer alten Londoner Kirche, er hört gern den Klang der Glocken, die ihm in seiner Phantasie stets aufmunternde Botschaften zurufen.
Das tut Toby gut, denn manchmal zweifelt der fröhliche und genügsame Mann ein wenig an der Welt. Arme Leute wie er und seine Tochter werden im viktorianischen England von Presse und Politik für schlecht, faul, sogar kriminell gehalten und Toby weiß nicht, wozu seinesgleichen gut sein soll.
An einem kalten Tag des zu Ende gehenden Jahres bringt ihm seine Tochter Meg ein sehr bescheidenes Mittagessen (Gekröse!!!) vorbei. Sie ist eine fleißige und außerordentlich hübsche junge Frau. Meg teilt ihrem Vater mit, dass sie jetzt an Neujahr ihren Verlobten Richard heiraten will, zwar habe man kein Geld, aber vom langen Warten auf bessere Zeiten würde sich an den Verhältnissen auch nichts ändern.
Auch Richard, ein junger Schmied, kommt dazu. Die drei werden von einem Stadtrat und seinen Begleitern harsch angesprochen, weil Toby auf den Stufen der Haustreppe des Politikers sein Mahl eingenommen hat. Die Herren belehren die drei darüber, wie minderwertig sie doch seien.
Arme Leute wie Toby äßen ihr Gekröse auf Kosten anderer, die deshalb hungern müssten. Arme Leute wie Meg und Richard würden mittellos und unbedacht heiraten und Kinder in die Welt setzen. Der junge Mann werde zum Trinker und früh sterben, die Frau werde rasch verwelken und krank und obdachlos werden, ihre Kinder herumstrolchen und verwahrlosen.
Arme Leute sollten weder das Recht haben, geboren zu werden, noch zu heiraten, krank zu werden oder gar zu verzweifeln und zu klagen, so die Rede des Londoner Stadtrates Cute und seines Begleiters Filer.
Meg und Richard gehen angesichts ihres beschämenden Standes und ihrer düsteren Zukunft betrübt weg. Nach dieser politischen Rede hört Toby im Klang der Glocken nichts Aufmunterndes mehr, sondern eine Verurteilung der einfachen Leute – zum Bösen geboren, zum Bösen geboren.
„Die Glocken“ – Zweites Viertel
Voller Ehrfurcht steht Toby wenig später beim Parlamentsmitglied Sir Joseph im Salon. Er hat diesem selbst ernannten Gönner der Armen einen Brief von Stadtrat Cute überbracht und darf nun Sir Josephs Anleitungen für den armen Mann lauschen: wenig essen, sparsam leben, pünktlich die Steuern zahlen, niemandem zur Last fallen, sich nicht beschweren, nicht aufbegehren und dergleichen mehr.
Toby ist voller Ehrfurcht für Sir Joseph und voller Scham über sich und Menschen seines Schlages. Auf seinem Heimweg grüßt er nicht wie gewohnt den Glockenturm, die Angst vor der Zukunft drückt ihn nieder. Er rempelt mit einem großen, kräftigen Mann zusammen, der ein kleines Mädchen auf den Armen trägt. Sie kommen ins Gespräch und Toby erfährt, dass der Mann Will Fern ist, der wegen Landstreicherei ins Gefängnis soll (das war der Inhalt des Briefes von Stadtrat Cute an den Abgeordneten Sir Joseph).
Toby warnt Will und bietet ihm eine Unterkunft für die Nacht an. Seine Tochter Meg ist ebenso gastfreundlich wie ihr Vater, vom letzten Geld wird für die beiden Gäste Tee und Speck gekauft. Das kleine Mädchen Lillian ist nicht Ferns Tochter sondern dessen verwaiste Nichte. Lillian fasst sofort Zutrauen und große Zuneigung zu Meg. Als alle zu Bett gegangen sind, bleibt Toby noch wach und hadert mit der schlechten Art und dem üblen Charakter armer Leute.
Die Glocken beginnen zu läuten und Toby hört, dass sie ihn rufen.
Er geht zur Kirche und steigt – gegen spukhafte Gestalten ankämpfend – in der Dunkelheit auf den Glockenturm hinauf. Oben angekommen, bricht er ohnmächtig zusammen.
(Bild rechts: Albrecht Fietz/Pixabay)
„Die Glocken“ – Drittes Viertel
Als Toby im Glockenstuhl des Kirchturms wieder zu sich kommt, läuten die Glocken und umtanzen ihn Gespenster, Gnome und Zwerge, ständig ihre Formen wechselnd. Als die Glocken ihr Geläut beenden, verschwinden die unheimlichen Wesen und die Glocken wandeln sich zu dunklen, unheimlichen Gestalten.
Sie tadeln ihn dafür, dass er aus ihrem Geläut abfällige Bemerkungen über die geschundenen Armen und den Lauf der Zeit herausgehört hat. Und die Glocken führen ihn in die Zukunft: er, Toby, liegt tot auf dem Boden der Kirche, herabgestürzt vom Turm. Neun Jahre später sieht er seine Tochter Meg, die allein mit Lillian lebt. Beide sind sich herzlich zugetan und müssen hart arbeiten, um überhaupt ein wenig essen zu können.
Doch Toby kann nicht bleiben, die Szenerie wechselt, schon ist er auf einem Ball beim Parlamentsmitglied Sir Joseph. Hier hat ein abgemagerter Will Fern seinen Auftritt, er hält den Reichen vor, die Armen allein schon dafür zu verurteilen und zu bestrafen, dass sie nach Arbeit oder Essen suchen und fordert barmherzigere Gesetze.
Und wieder geht es weiter, Toby steht unsichtbar in Megs Zimmer. Richard tritt ein, mittlerweile ein heruntergekommener Säufer. Er berichtet Meg von Lillian, die scheinbar auf die schiefe Bahn geraten ist und Meg über Richard Geld schicken will, schon zum wiederholten Male. Wenig später kommt Lillian, sie stirbt um Verzeihung bittend in Megs Armen.
„Die Glocken“ – Viertes Viertel
Toby erfährt auf seiner Reise durch die Zukunft das ganze Ausmaß des Unglücks. Auch Richard ist mittlerweile gestorben. Er hatte Meg damals an Neujahr nicht geheiratet wegen der Worte des Stadtrates Cute. Erst nach dem Tod Lillians heiratete Tobys Tochter den völlig heruntergekommenen Trinker – aus Mitleid.
Ihre Pflege half Richard nicht auf Dauer, er wurde rückfällig und trank sich buchstäblich zu Tode. Toby sieht an der Totenbahre eine furchtbar ausgemergelte Frau, in der er kaum seine Meg erkennt, die ein elendes Baby an sich presst.
Es kommt noch schlimmer – die Glocken zeigen dem gebeutelten Toby ein furchtbares Zukunftsszenario, führen ihm auch immer wieder Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft in all dem Elend und der Armut vor Augen. Er leistet verzweifelt Abbitte und erkennt an, dass arme Menschen in ihrem Leid Gutes tun und keine minderwertigen Subjekte sind.
Toby erwacht, um ihn herum sind Meg und Richard, jung und glücklich und kurz vor der Hochzeit stehend. Die Zeit wurde zurückgedreht. Auch für die (nun wieder kindliche) Lillian und ihren Onkel Fern gibt es ein glückliches Wiedersehen mit der Freundin von Lillys verstorbener Mutter.
Ein Happy End mit fröhlichem Tanz – war alles Leid und Elend ein Traum? Hat vielleicht auch der Erzähler geträumt, fragt Charles Dickens am Schluss seiner Weihnachtsgeschichte „Die Glocken“. Dann wünscht er seinen Lesern ein glückliches neues Jahr und bittet sie darum, sich um ihre Nächsten zu kümmern und für bessere Lebensumstände zu sorgen…
„Die Glocken“ – mein Fazit
„Die Glocken“ von Charles Dickens sind zugleich Weihnachts- und Neujahrsgeschichte. Sicher sollten die wohlhabenden viktorianischen Bürger beim Festtagsessen an die denken, denen es wesentlich schlechter ging.
Um dann ihre guten Vorsätze in Sachen Barmherzigkeit im neuen Jahr tatkräftig umsetzen. Um vielleicht sogar für eine gerechtere Gesetzgebung einzutreten – wer weiß?
Wesentlich deutlicher als in all seinen anderen Weihnachtsmärchen und -erzählungen kritisiert Dickens in „Die Glocken“ die sozialen Missstände seiner Zeit, bringt aber selbst keinen Lösungsvorschlag. Wie schon im „Heimchen am Herd“ lässt er alles in einer traumhaften Tanzszene enden und verwehen, das schmälert die soziale Kritik meiner Meinung nach ein wenig.
Geschrieben ist das Märchen phantasievoll und bilderreich, so schildert Dickens eine Straßenecke in der Winterzeit als „gänsehauttreibenden, blaunasenerschaffenden, rotaugenproduzierenden, steinerweichenden, zähneklappernden Warteplatz“ (Seite 12, Charles Dickens, „Weihnachtsmärchen“, Magnus Verlag).
Ein Text zum „dahinschmelzendwonneschauerndlesen“ – einfach zauberhaft schön.
„Die Glocken“ – mein Lese-Exemplar
Charles Dickens, „Weihnachtsmärchen“, daraus „Die Glocken“, 96 Seiten, bearbeitet, übersetzt und herausgegeben von D. P. Johnson, (überarbeitete Gesamtausgabe unter Verwendung der Übertragungen von Karl Kolb und Julius Seybt), mit Illustrationen der Erstausgabe, Magnus Verlag Essen (kein Erscheinungsdatum).