Inhalt
„Cranford“ – eine Einführung
„Cranford“ lautet der Titel einer Erzählung in Episoden und der Name des fiktiven Städtchens, in dem Elizabeth Gaskell ihre Handlung ansiedelt.
Wie schon in Meine Leselampe KW 32 – Vorschau und Viktorianische Zeilenreise erwähnt (siehe unter Quellen und Weblinks), steht Cranford für den kleinen Ort Knutsford in Cheshire, in dem Elizabeth Gaskell nach dem Tode ihrer Mutter aufwuchs.
Und es gibt in der Erzählung auch noch die Stadt Drumble, sie ist der Industriestadt Manchester nachempfunden, in der Elizabeth Gaskell nach ihrer Heirat mit ihrem Mann und ihren Kindern lebte.
Über die Veröffentlichung
Eigentlich ist „Cranford“ kein Roman, sondern vielmehr eine Sammlung von Episoden, die – mit Unterbrechungen – von 1851 bis 1853 in der Zeitschrift „Household Words“ von Charles Dickens veröffentlicht und dann 1853 als Buch von Chapmann & Hall (siehe Quellen und Weblinks) herausgegeben wurden. Heute ist die „episodic novel“ in 16 Kapitel aufgeteilt.
Über die Zeitbezüge
Die Episoden erstrecken sich über viele Jahre. Bei meinem Lese-Exemplar (Reclam Verlag) ist auf der hinteren Umschlagseite vom „Fortschritt der 1850er Jahre“ die Rede.
Doch die Zeitspanne ist im Buch größer: die „abscheuliche“ Eisenbahn ist schon bis Drumble vorgedrungen, die Cranforder Damen sprechen oft von Queen Adelaide (der Ehefrau von King William IV., der England von 1830 bis 1837 regierte), Charles Dickens‘ „The Pickwick Papers“ erscheint in Fortsetzungen in einer Zeitschrift (1836/1837), im späteren Verlauf der Handlung wird seine Weihnachtserzählung „Christmas Carol“ von 1843 erwähnt. Und dank der Familienbriefe und Erinnerungen von Matty Jenkyns wird auch noch das ausgehende 18. Jahrhundert gestreift.
Über die Glaubwürdigkeit
Sollten Euch manche Sitten oder Angewohnheiten wie die in Flanell gewandete Kuh von Miss Betsy Barker überspitzt oder verschroben erscheinen – sie sind anscheinend wahr. Elizabeth Gaskell hat sogar noch einige Absurditäten ausgelassen, aus Angst, die LeserInnen würden es nicht glauben (Aspekte des Romans, siehe unter Quellen und Weblinks)!
„Cranford“ – die Handlung
„Zuerst muss das Wichtigste gesagt werden: Cranford ist im Besitz der Amazonen. Alle Inhaber von Wohnungen über eine gewisse Miete hinaus sind Frauen. Wenn ein jung verheiratetes Paar sich in der Stadt niederlässt, dann verschwindet der Mann bald auf irgendeine Art;…
… entweder erschrickt er zu Tode darüber, dass er der einzige Mann bei den Cranforder Abendgesellschaften ist, oder sein Verschwinden wird damit erklärt, dass er bei seinem Regiment oder Schiffe ist oder die ganze Woche in (…) Drumble , (…), zu tun hat.“
Zitat Seite 5 aus Elizabeth Gaskell, „Cranford“, Roman, 229 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Jahn, bearbeitet von Barbara Fleischhauer, erschienen 2021 im Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen. Beide Bilder zum Zitat stammen von Prawny/Pixabay nach Skizzen von Edward Lear (siehe unter Quellen und Weblinks)
Mit diesen Worten führt uns Mary Smith in das nordenglische Städtchen ein, Elizabeth Gaskell hat die junge Dame zur humor- und liebevollen Erzählerin der Episoden gemacht. Mary lebt mit ihrem Vater in Drumble und besucht Cranford – meist in größeren Zeitabständen. Sie logiert dann bei den Misses Jenkyns und bei Miss Pole.
Es besteht eine alte freundschaftliche Verbindung ihres Vaters zu den Jenkyns-Schwestern, vielleicht sogar eine weit entfernte Verwandtschaft.
Bevor Ihr Cranford betretet, müsst Ihr noch einiges wissen. Die Amazonen dort haben so ihre Eigenheiten: es gelten strenge Regeln bei den Besuchszeiten, die müsst Ihr einhalten, wenn Ihr dazu gehören möchtet.
Bei Gesellschaften ist die Rangfolge zu beachten: die eigentliche Königin der Cranforder Gesellschaft ist die Witwe Mrs. Jamieson als Schwiegertochter eines Barons. Ihr gebührt bei den abendlichen Zusammenkünften der beste Platz.
Gleich nach ihr rangiert Mistress Forrester (ebenfalls dank gehobener militärischer Verwandtschaft), dann die Töchter des verstorbenen Pfarrers Jenkyns, die strenge Miss Deborah und sanfte Miss Mathilde („Matty“). Und Miss Pole als stets bestens informierte Nachbarin darf bei Einladungen nicht übersehen werden!!
Vermeidet Aufschneiderei: die ortsansässigen Damen verfügen nur über beschränkte pekuniäre Mittel und machen daraus die Tugend der „vornehmen Sparsamkeit“. Geld ausgeben deklarieren sie als „ordinär“ (letzteres Wort jedoch auch). Modisch sind sie nie up-to-date, mit Hauben und Broschen putzen sie ihre einfache Kleidung auf.
Wie immer (angeblich!!), wenn viele Frauen unbemannt zusammen sind, wird gern getratscht, ab und zu miteinander gezankt, doch alles in wohlanständigem Rahmen.
Und: in Cranford geht frau früh zu Bett (aus Mangel an Geld und Ablenkungen)!!!
So beschreibt Mary Smith die Damen im ersten Kapitel „Unsere Gesellschaft“. Und gleich zu Beginn sorgt ein Mann für Wirbel in der Damenhochburg. Es ist ein pensionierter Hauptmann namens Brown, der sich mit seinen Töchtern in Cranford niederlässt.
Ein Mann! – zuerst schlagen die Wogen der Empörung hoch, aber der stets hilfsbereite und gutmütige Brown erobert sich sein Plätzchen, wird offiziell empfangen und zu den Teegesellschaften eingeladen. Leider entbrennt zwischen ihm und der älteren Miss Jenkyns ein Literaturzwist.
Hauptmann Brown liest gerade die laufenden Fortsetzungen von „The Pickwick Papers“ und hält die Geschichte und ihren Autor Boz (Dickens‘ Pseudonym) für „famos“. Die ältere Miss Jenkyns geht nicht d’accord mit ihm, sie preist die Qualitäten des Dr. Johnson (siehe unter Quellen und Weblinks), des literarischen Sterns des 18. Jahrhunderts:
„Dr. Johnsons Stil ist vorbildlich für junge Anfänger. (…) Ich habe meinen eigenen Stil nach ihm gebildet und empfehle ihn Ihrem Günstling ganz besonders.“
Seite 17 aus Elizabeth Gaskell, „Cranford“, Roman, 229 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Jahn, bearbeitet von Barbara Fleischhauer, erschienen 2021 im Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen.
Was hat der „Günstling“ Charles Dickens wohl davon gehalten? Sollte das ein kleiner Seitenhieb von Mrs. Gaskell sein?
Nun, Miss Deborah, die tonangebende der beiden Schwestern Jenkyns, vergisst den Streit nicht so schnell, Hauptmann Brown ist bei ihr vorläufig in Ungnade gefallen. Erst bei einem tragischen… nein, das führt zu weit, das sollt Ihr ja noch lesen.
Die eigentliche Heldin der „episodic novel“ ist die liebe Miss Matty. Sie ordnet sich ihrer herrschsüchtigen Schwester gern unter, blickt zu ihr auf und ist ganz verloren, als Deborah stirbt.
Weiterer Kummer kommt auf Miss Matty zu, als sie Mr. Holbrook, einen Cousin von Miss Pole, wieder trifft, ihre große Jugendliebe. Holbrook lädt sie, Miss Pole und unsere Erzählerin Mary Smith zum Abendessen ein. Kurz darauf reist er nach Paris, kommt krank zurück und stirbt. Miss Matty trauert um Holbrook. Mary Smith ahnt, dass die Standesdünkel Deborahs damals wohl eine Heirat verhindert hatten.
Nach diesen Todesfällen holt die wehmütig gestimmte Miss Matty die alten Briefe ihrer Eltern hervor und erzählt Mary die Geschichte ihrer Familie. Es gab einst auch einen Bruder, Peter, der nach einem Streit mit dem Vater davonlief, zur Armee ging und in Indien kämpfte. Dann verlor sich seine Spur. Mary beschließt, heimlich nachzuforschen, ob und wo Peter lebt.
Was gibt es noch zu erzählen? Ach, der Zauberer Signor Brunoni gastiert in Cranford, zeitgleich sorgen Einbrüche für Aufregung und Angst unter den Damen des Ortes.
(Bild links: Vinson Tan/Pixabay)
Eine Lady heiratet den Arzt der Gegend – shocking, kann man sie jetzt noch einladen und wie redet man sie an?
Miss Matty verliert durch eine Bank-Insolvenz ihr weniges Geld, das löst in Cranford eine Welle der Solidarität aus und überraschend naht von weit her Hilfe…
Fassen wir die Handlung zusammen zu folgender Kurzformel: zwei Hochzeiten und fünf Todesfälle (mit Hund und wenn ich mich nicht verzählt habe). Und eine ganz wunderbare Miss Matty:
„Wir alle haben Miss Matty sehr lieb, und ich glaube, wir sind alle irgendwie bessere Menschen, wenn sie unter uns ist“.
Seite 229 aus Elizabeth Gaskell, „Cranford“, Roman, 229 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Jahn, bearbeitet von Barbara Fleischhauer, erschienen 2021 im Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen.
Mit diesen Worten beendet Mary Smith das sechzehnte Kapitel „Friede über Cranford“.
Mögen die Damen in Cranford ihr beschauliches Leben auf ewig genießen – zumindest zwischen den Deckeln dieses Buches!!
„Cranford“ – mein Fazit
In dieses bezaubernde Werk von Elizabeth Gaskell mit seinen reizenden „Heldinnen“ habe ich mich verliebt. Gäbe es „Cranford“ und seine Menschen wirklich, ich würde mich bei Kummer und Sorgen dorthin zurückziehen und Zuversicht und Kraft schöpfen. Und mich von all den liebenswerten Schrulligkeiten ablenken und aufheitern lassen. Miss Matty, ich komme…
„Cranford“ – mein Lese-Exemplar
Elizabeth Gaskell, „Cranford“, Roman, 229 Seiten (ohne Anmerkungen, Zeittafel und Kapitelübersicht), aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Jahn, bearbeitet von Barbara Fleischhauer, erschienen 2021 im Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen.
Sehr schön gemacht ist auch die fünfteilige BBC-Serie von 2007, die außer Elementen aus „Cranford“ selbst noch Gaskells spätere und frühere Erzählungen „My Lady Ludlow“ (1858) und „Mr. Harrison’s Confessions“ (1851) sowie Ausschnitte aus dem Artikel „The Last Generation in England“ (1841) mit einbezieht.
Judy Dench verkörpert Miss Matty Jenkyns – großartig besetzt! Von der Verfilmung habe ich bisher nur Trailer gesehen, die haben mir sehr gut gefallen. Ich werde mir die DVD „Cranford“ auf jeden Fall noch gönnen, dann berichte ich ausführlicher!!
„Cranford“ – Quellen und Weblinks
Was gab es bisher über „Cranford“ auf Meine Leselampe? -> https://www.meineleselampe.de/meine-leselampe-kw-32-vorschau/
Wer waren Chapmann & Hall? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Chapman_%26_Hall
Aspekte des Romans > https://en.wikipedia.org/wiki/Cranford_(novel)
Wer war Edward Lear? -> https://www.edwardlearsociety.org/biography/
Wer war „Dr.“ Johnson? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Johnson