Inhalt
„Aufstand der Elfen“ (ab 1877)
„Aufstand der Elfen“ – Untertitel: Phantastische Erzählungen aus dem viktorianischen England. Hinter dem Buchtitel steckt eine Kunstmärchen-Anthologie aus der Zeit von 1877 bis 1904.
„Aufstand der Elfen“ – Einleitung
Gesammelt und herausgegeben hat die Märchen Jack Zipes. Der Professor im Ruhestand (Jahrgang 1937) lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA unter anderem vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Deutsch. Seine große Liebe galt und gilt den „fairy tales“, so übersetzte er auch die Märchen der Gebrüder Grimm. Für Zipes haben Märchen eine soziale Funktion.
Und die erfüllen die viktorianischen Fantasy-Geschichten und Kunstmärchen in „Der Aufstand der Elfen“: sie entlarven die heuchlerischen und strengen Konventionen der viktorianischen Gesellschaft. Ihre Autor*innen kritisieren starre Normen, durch die besonders Frauen und Kinder gegängelt wurden. Wer sich nicht alters- und geschlechtsspezifisch verhielt, aus ihrer/seiner Rolle fiel, verlor die öffentliche Anerkennung, wurde ausgegrenzt.
„Aufstand der Elfen“ – zum Inhalt
In der Geschichte „Der widerspenstige Drache“ (1898) von Kenneth Grahame, dem Autor des Kinder-Fantasy-Buches „The Wind in the Willows“, weigert sich ein Drache, seine traditionelle Rolle einzunehmen. Also Feuer zu speien, Vieh zu reißen und Menschen anzugreifen. Der widerspenstige Drache möchte statt dessen friedlich und faul vor seiner Höhle dösen, mit Besuchern plaudern und Sonette schreiben. Da ein Drache jedoch ein Drache und somit bedrohlich zu sein hat, holen die Dorfbewohner den Heiligen Georg, der mit dem Drachen kämpfen und ihn besiegen soll….
Tief beeindruckt hat mich „Tony, der Holzkopf“ von Lucy Lane Clifford aus dem Jahr 1892:
„Die Bäume führten Bilder vor, und er sah sie; der Wind wehte, und er verstand ihn: bestimmt gehörte er zum Wind und den Bäumen und war einstmals ein Teil von ihnen?“
Seite 144 aus „Der Aufstand der Elfen“, Hrsg. Jack Zipes, 254 Seiten (mit Nachwort), übersetzt von Werner Schmitz, erschienen 1988 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt am Main-Berlin.
So denkt und fühlt Tony, ein kleiner Junge, der mit seinen Eltern in den Schweizer Alpen lebt. Er ist nicht wie andere Kinder, die ihren Eltern bei der Alltagsarbeit helfen und ihnen nützlich sind.
Tony lebt in seiner eigenen Welt, er möchte Hände und Füße nicht bewegen, dazu ist er nicht da. Seiner Mutter sagt er einmal, er wäre gern weit weg, denn dadurch würde er ganz klein und müsste nichts mehr tun. Die Erklärung seiner Mutter, dass weit entfernte Menschen und Dinge nur klein aussehen, es aber nicht sind, versteht Tony nicht. Überhaupt versteht er die Menschen nicht, dafür aber den Wind, die Bäume.
Die Nachbarn sprechen von dem Jungen nur als „Tony, der Holzkopf“, für sie ist er ein nutzloser Narr. Auch Tonys Vater versteht seinen „faulen“ Sohn nicht, denn er selbst muss hart arbeiten. Um Geld zu verdienen, führt er Touristen in die Berge und schnitzt Holzfiguren, die er an die Urlaubsgäste oder an fahrende Händler verkauft. Aus einem dunklen und knorrigen Stück Holz schnitzt er eines Tages eine kleine Frau, die Tony große Angst einjagt. Der Junge betritt die Sennhütte der Eltern nicht eher, bis die Figur verkauft ist.
Von seinen früheren Bergwanderungen hat Tony ein wundersames Lied mitgebracht, jetzt sitzt er den ganzen Tag vor der Hütte und singt es, die Melodie verbreitet sich allmählich. Einheimische erzählen sich, Tony habe die Melodie von den Wolken gelernt.
Eine Tages kommt ein Händler vorbei, er will dem Vater einige seiner kleinen Holzfiguren abkaufen. Als er Tony singen hört, nimmt er den Jungen mit nach Genf, um die Melodie bekannt zu machen. Auf dem Weg dorthin lässt er Tony das Lied singen und fängt es auf einem Draht ein.
Beim Singen und Wandern verliert Tony die Worte des Liedes, dann die Melodie, dann seine Stimme, seine Gedanken. Er fühlt, dass er immer starrer und gleichgültiger wird, er spürt keine Angst, kein Heimweh, keine Kälte, keinen Hunger, ihn erreicht nichts mehr.
Je weiter er sich von der Heimat entfernt, desto kleiner wird er auch. In Genf angekommen, sperrt ein Händler den fast bewegungslosen Tony in eine Uhr in Form einer Sennhütte, in der schon jene kleine Holzfrau sitzt, vor der er einst so große Angst hatte. Zu jeder vollen Stunde ertönt die Melodie und Tony und die Holzfrau werden aus der Uhr heraus geschleudert und wieder zurück gerissen.
Eines Tages kommen seine Eltern, die nach ihren Sohn sehen wollen, an dem Laden vorbei, in dem die Uhr steht. Als Tony und die Holzfrau zur vollen Stunde durch die Türchen heraus fahren, erkennt die Mutter ihren hölzernen Sohn. Sie ist verzweifelt und möchte ihn zurück haben, dem Vater ist es egal, Tony habe nichts getaugt, der „Holzkopf“ habe sich nie genug bewegt und sei nun gänzlich zu Holz geworden. Die Eltern kehren zurück in ihr Schweizer Bergdorf – ohne Tony.
Laut Jack Zipes hat die Autorin Lucy Lane Clifford in „Tony der Holzkopf“ das Schicksal eines autistischen Kindes geschildert, das durch die viktorianischen Erziehungsmethoden zu einem erstarrten und isolierten Menschen, sprich: zur hölzernen Puppe gemacht wird.
Auch Mary de Morgen kritisiert in „Die Spielzeugprinzessin“ von 1877 den viktorianischen Erziehungsstil und die Umgangsregeln. Sie erzählt von einem Land, in dem die Leute so höflich sind, dass sie sich zu keinerlei Gefühlsregungen hinreißen lassen.
Die Konversation beschränkt sich auf Floskeln wie „Ja danke“, „Bitte sehr“, „Natürlich gern“ und so weiter. Über Gefühle jeglicher Art wird nicht gesprochen. Das geht soweit, dass der König eine mechanische Puppe, die von einem Zauberer auf die Höflichkeits-Regeln des Landes „programmiert“ wurde, zur Thronfolgerin macht.
Seine eigene Tochter lehnt der König ab, sie ist ihm viel zu emotional, zu menschlich eben…..
Weitere viktorianische Märchen und Fantasy-Geschichten, die sich gegen diskriminierende oder sozial ungerechte Verhaltensnormen auflehnen, stammen in „Aufstand der Elfen“ von:
- George McDonald („Tagjunge und Nachtmädchen“, 1879),
- Mrs. Molesworth („Geschichte einer Königstochter“, 1884),
- Evelyn Sharp („Die Tochter des Zauberers“, 1902),
- Laurence Housman („Eine Mütze voll Mondlicht“ und „Ein chinesisches Märchen“, beide 1904) und
- Oscar Wilde („Der glückliche Prinz“, 1888, auf Meine Leselampe schon früher vorgestellt unter: https://www.meineleselampe.de/erzaehlungen-und-maerchen/
Herausgeber Jack Zipes rundet seine Sammlung mit Illustrationen aus den damaligen Ausgaben (leider nicht immer zu der jeweiligen Geschichte passend) sowie mit einem Vor- und einem Nachwort zum literaturgeschichtlichen Kontext ab. Und jeder Geschichte stellt er eine kurze Biographie über die SchriftstellerIn voran.
„Aufstand der Elfen“ – mein Fazit
Das Buch „Aufstand der Elfen“ eignet sich trotz des ernsten Hintergrundes für alle Altersklassen – zum selbst darin schmökern oder zum vorlesen (lassen). Der Ton bleibt heiter, die Kritik wird spielerisch eingeflochten.
Die berühmte „Moral von der Geschicht“ wird von den viktorianischen Autor*innen nicht per Holzhammer vermittelt, sondern ergibt sich aus der Handlung und ihrem Ausgang. Aktuell sind die viktorianischen Fantasy-Märchen nach wie vor: in allen Bereichen der Gleichberechtigung gibt es noch immer genug zu verbessern, eine Sensibilisierung von Alt und Jung für diese Probleme ist vonnöten und sinnvoll.
Mir hat „Aufstand der Elfen“ sehr gut gefallen und ich kann Euch das Buch rundum empfehlen.
„Aufstand der Elfen“ – mein Lese-Exemplar
„Aufstand der Elfen“, Phantastische Erzählungen aus dem viktorianischen England, Hrsg. Jack Zipes, 254 Seiten (mit Nachwort), übersetzt von Werner Schmitz, erschienen 1988 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt am Main-Berlin.