»Der Bürgermeister von Casterbridge« – Thomas Hardy (1886)

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – die Einleitung

»Der Bürgermeister von Casterbridge: Leben und Tod eines Mannes von Charakter« (OT: »The Life and Death of the Mayor of Casterbridge: A Story of a Man of Charakter«) kam 1886 heraus, spielt jedoch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Nur langsam dringen erste Vorboten der Industrialisierung in »Der Bürgermeister von Casterbridge« in den ländlichen Raum vor, den Hardy, selbst vom Lande stammend, wieder einmal zum Schauplatz erkoren hat.

Die Stadt Casterbridge ist Dorchester authentisch nachempfunden, die fiktive Grafschaft Wessex dem Distrikt Dorset im Südwesten Englands, der Heimat Hardys.

Und erneut erscheint es, als wäre die Handlung aus vielen Gemälden zusammengesetzt,

Der Bürgermeister von Casterville

so liebevoll und detailliert beschreibt Thomas Hardy die Natur, das Wetter, die Gebäude, das Treiben auf den Straßen von Casterbridge.

(Bild links: Jo-B/Pixabay)

Den ersten Blick eines Wanderers auf Casterbridge schildert Hardy so:

»Hoch emporsteigenden Vögeln musste Casterbridge an diesem schönen Abend als ein Mosaik aus gedämpften Rot-, Braun-, Grau- und Kristalltönen erscheinen, dass durch einen rechtwinkligen Rahmen tiefen Grüns zusammengehalten wurde. Dem auf gleicher Höhe befindlichen Auge des Menschen war es eine undeutliche Masse hinter einer dichten Einfriedung aus Linden und Kastanien, inmitten von Meilen abgerundeten Hochlands und konkav gewölbter Felder gelegen.«

Hardy, Thomas, »Der Bürgermeister von Casterbridge«, Stuttgart, 1985, Seite 35/36.

Ist das nicht die Blickweise des Architekten Hardy?

Das Seelenleben der Handelnden behandelt der Schriftsteller weniger nuanciert, wie auch bei »Tess of the D’Urbervilles« hält Hardy uns auf gefühlsmäßiger Distanz zum Innenleben seiner ProtagonistInnen.

»Der Bürgermeister von Casterbridge« ist der zehnte Roman von den insgesamt vierzehn, die Hardy veröffentlicht hat.

Ich glaube, sein Anliegen als Schriftsteller wird wunderbar in einem Zitat auf der hinteren Umschlagseite meines Lese-Exemplars (s. unten) wiedergegeben, es stammt aus der Zeit, in der Hardy »Der Bürgermeister von Casterbridge« veröffentlicht hat:

»Der Dichter und der Romancier haben die Aufgabe, das Leid zu zeigen, dass den größten Dingen zugrunde liegt und die Größe, die sich hinter den leidvollsten Dingen verbirgt.«

(Thomas Hardy 1885/1886)

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – über den Autor

Thomas Hardy wurde 1840 in Higher Bockhampton nahe Dorchester in der Grafschaft Dorset geboren und starb 1928 in Dorchester. Seine Lebensdaten und seine Literatur spannen den Bogen von der viktorianischen Ära in die Moderne.

Zwischendurch lebte Hardy immer wieder für einige Zeit in London, verwurzelt blieb er jedoch stets in Dorset.

(Bild rechts: Alan ARB/Pixabay)

Meine Leselampe KW 45 - Vorscha

Der gelernte Architekt entdeckte bald das Schreiben als seine wahre Berufung und verfasste Romane, die von einem resignierten Realismus durchdrungen sind. In ihnen setzt Hardy sich mit der Frage auseinander, inwieweit der Mensch von schicksalhaften Mächten abhängt oder vom strengen, oft scheinheiligen Diktat von Religion und Moral beeinflusst oder gar vernichtet wird.

Romane wie »Tess of the D’Urbervilles« (1891) oder »Jude The Obscure« (1895) stießen bei den viktorianischen Zeitgenossen auf harsche Kritik und lösten Skandale aus. Daher wendete Hardy sich ab 1897 der Lyrik zu und schrieb außerdem zahlreiche Kurzgeschichten.

Sein literarischer Ruhm und sein Einfluss auf andere Autoren gründete im 20. Jahrhundert vorwiegend auf den über 1000 Gedichten, die Hardy uns hinterließ. Einige seiner Romane sind leider in Vergessenheit geraten.

Außer »Tess of the D’Urbervilles« und »Jude The Obscure« sind heute vor allem noch »Under the Greenwood Tree« (1872) und »Far from the Madding Crowd« (1874) einer größeren Leserschaft bekannt.

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – zum Inhalt

Michael Henchard, ein junger Heubinder, zieht mit seiner Frau und Tochter auf der Suche nach Arbeit durchs Land. Eines Abends erreichen die drei erschöpft und hungrig einen Jahrmarkt bei der Ortschaft Weydon-Priors und kehren in einem Zelt ein, um dort Weizengrütze zu essen.

Der Bürgermeister von Casterbridge"

Michael lässt sich seine Portionen von der Wirtin mit Rum versetzen und ist bald betrunken.

(Bild links: Antranias/Pixabay)

In diesem Zustand empfindet er seine früh eingegangene Ehe einmal mehr als eine Last, die ihn hindert, mit seiner Arbeit wesentlich mehr Geld zu erwirtschaften.

Henchard kommt – nicht zum ersten Mal – die unheilvolle Idee, seine Frau Susan und die kleine Tochter Elizabeth-Jane zu versteigern. Vom Rum befeuert stellt er der Gästerunde die knappe Frage, die auch sein weiteres Schicksal bestimmen wird:

»Die Frau ist mir zu nichts nütze. Wer will sie haben?«

Hardy, Thomas, »Der Bürgermeister von Casterbridge«, Stuttgart, 1985, Seite 14.

Kleine Anmerkung am Rande: Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war es keine Seltenheit, dass Ehefrauen verkauft wurden, denn Scheidungen gab es nicht (siehe dazu Quellen und Weblinks).

Ein Matrose, den keiner der Gäste kennt und der nicht aus der Gegend stammt, ersteigert Henchards Frau und Tochter für fünf Pfund und fünf Schillinge und verschwindet mit beiden aus dem Zelt, aus Weydon-Priors und aus Michael Henchards Leben.

Am nächsten Morgen erwacht Henchard im Grütze-Zelt, mit schwerem Kopf und Schuldgefühlen, aber auch wütend auf seine Frau. Warum hat sie es nicht besser gewusst, sondern ist mit dem Matrosen mitgegangen?

Er will seine Frau und seine kleine Tochter suchen, zuvor schwört er, die nächsten einundzwanzig Jahre, so viele, wie er bisher gelebt hat, keinen Alkohol zu trinken.

Monatelang durchkämmt er Städte und Dörfer – vergebens.

In einem Hafen erfährt er endlich, dass drei Personen, die seiner Beschreibung entsprechen, an Bord eines Schiffes gegangen sind, um auszuwandern.

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

Da gibt Henchard sein Unterfangen auf und reist südwestlich, bis er die Stadt Casterbridge erreicht.

Viele Jahre später kommen eine abgehärmte Frau und ein junges Mädchen nach Casterbridge. Es sind Susan Henchard, die sich Newson nennt und ihre fast erwachsene Tochter Elizabeth-Jane. Der Matrose, der sie einst gekauft hat, gilt als schiffbrüchig und tot.

Susan möchte ihren rechtmäßigen Ehemann Michael finden, um ihre Tochter in der Welt voranzubringen und ihr ein sicheres Auskommen zu ermöglichen. Elizabeth-Jane hat sie erzählt, sie wolle einen angeheirateten, entfernten Verwandten aufsuchen und ihn um Hilfe bitten.

Denn Elizabeth-Jane weiß nichts von der Versteigerung in Weydon-Priors. Sie hält den Matrosen Newson für ihren leiblichen Vater und den rechtmäßig angetrauten Gatten ihrer Mutter.

"Der Bürgermeister von Casterbridge"

Am gleichen Tag wie die beiden Frauen erreicht auch der junge Schotte Donald Farfrae das dörflich anmutende Städtchen Casterbridge. Eigentlich möchte er nach Amerika auswandern und dort sein Glück machen.

(Bild links: Abigailrf/Pixabay)

Zufällig bekommt Farfrae mit, dass der Bürgermeister von Casterbridge und wohlhabende Getreidehändler Michael Henchard Probleme mit ausgekeimtem Weizen hat.

Farfrae, der die modernen Techniken des Getreideanbaus und -handels erlernt hat, hilft Henchard, das Getreide zu verbessern und lässt sich nach anfänglichem Zögern überreden, als Verwalter für ihn zu arbeiten.

Henchard ist begeistert, braucht er doch dringend jemanden, der der Verwaltung eines so großen Handelsunternehmens kundig ist, als Selfmade-Geschäftsmann fehlen ihm die notwendigen Kenntnisse. Schnell betrachtet er Farfrae als seinen besten Freund und macht ihn überschwänglich zu seinem Vertrauten in allen Belangen.

Über Elizabeth-Jane nimmt Susan Kontakt mit Henchard auf, sie und Michael treffen sich wenig später an einem einsamen Platz.

(Bild rechts: Marius Mangevicius/Pixabay)

"Der Bürgermeister von Casterbridge"

Henchard will seine Tat von damals wieder gut machen und schlägt Susan vor, sie in einem Haus unterzubringen, ihr eine Zeitlang offiziell den Hof zu machen und sie dann (nochmals) zu heiraten. So kann er Frau und Tochter bei sich aufnehmen, ohne dass die Bürger von Casterbridge von der skandalösen Vergangenheit erfahren müssen.

Der Plan geht zunächst auf, doch glücklich wird keine und keiner der Beteiligten. Zu viele Verwicklungen, Altlasten und Henchards Eifersucht, Neid und Ängste zerstören nicht nur sein Leben und Glück, sondern auch das anderer.

Henchard hat Susan verschwiegen, dass es da noch eine junge Frau auf Jersey gibt – Lucetta Le Sueur –, die er kompromittiert hat und der er auch die Ehe schuldig wäre. Mit einem Brief an sie, den er Donald Farfrae für sich schreiben lässt, und einer Geldzuweisung entschuldigt er sich bei Lucetta und überlässt sie ihrem Schicksal.

Was er nicht ahnt: Lucetta hat in der Zwischenzeit ein kleines Vermögen geerbt und reist nach Casterbridge, außer ihr wird eine weitere unliebsame Zeugin der Vergangenheit den Weg in das Städtchen finden…

Susan wiederum traut sich nicht, Michael zu gestehen, dass seine leibliche Tochter bald nach der Versteigerung gestorben und dass die jetzige Elizabeth-Jane die Tochter des Matrosen Newson ist. Das erfährt Henchard erst nach ihrem Tod.

Von da an ist Elizabeth-Jane ihm ein Dorn im Auge und er lässt seine üble Laune an ihr aus, solange, bis sie das Haus verlässt und eine Stelle bei ihrer neuen Bekannten Miss Templeman annimmt, die niemand anderes als Lucetta Le Sueur ist.

Zu Michael Henchards Missvergnügen wird Donald Farfrae in Casterbridge bald beliebter und gesuchter als er selbst, er gewinnt sogar die Liebe Lucettas (und wendet sich dafür von Elizabeth-Jane ab).

In Henchard wächst die Missgunst auf den jüngeren und wesentlich gebildeteren Mann. Schließlich wirft er Farfrae aus der Firma.

Doch damit beginnt nicht Farfraes Abstieg, sondern der Henchards…

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – mein Fazit

Auf seine ruhige und bildlich genau beschreibende Weise erzählt Thomas Hardy, wie verhängnisvoll die Schicksale der Menschen sich miteinander verweben, wenn ein unheilvoller Impulsgeber inmitten menschlicher Schwächen, Eitelkeiten, aber auch Stärken wirkt.

Michael Henchard, der »Mann von Charakter«, steht sich dank seines impulsiven, jähzornigen und wenig ausbalancierten Wesens selbst im Weg und ist wahrhaftig »seines Unglücks Schmied«. Und der von einigen Mitmenschen.

Der Bürgermeister von Castlebridge

Henchard reflektiert seine Handlungen nicht, überdenkt nicht seine nächsten Schritte. Schnell ist er für einen Menschen oder eine Sache begeistert.

(Bild links: Gordon Johnson/Pixabay)

Jedoch: erfüllen sich seine Erwartungen nicht, verfolgt Henchard den oder die in seinen Augen Schuldige mit seiner Enttäuschung und seinem Hass – wie ein Kind ein Spielzeug wegwirft, wenn es ihn langweilt.

Er kreist gänzlich um sich, die Bedürfnisse der anderen interessieren ihn nicht. Ein guter Freund ist jemand, der ihm mit all seinen Fähigkeiten dient wie Donald Farfrae. Doch ein Michael Henchard würde sich nie fragen: was kann ich tun, um es Donald Farfrae Recht zu machen?

Das Scheitern eines solchen Charakters scheint bei Thomas Hardy unausweichlich, obwohl er seinem Helden am Schluss die Gelegenheit gibt, ehrlich zu sein, Gefühle zu zeigen und letztendlich seine demütigende Niederlage standhaft zu ertragen: »… die Größe, die sich hinter den leidvollsten Dingen verbirgt«.

Ein beeindruckender Roman, der tiefe Wahrheiten in sich birgt und den Konflikt widerspiegelt, der Hardy lebenslang beschäftigt hat: was bestimmt das Geschick des Individuums“ – der Charakter oder übernatürliche Schicksalsmächte?

Sehr empfehlen möchte ich Euch auch das Nachwort der Übersetzerin Eva-Maria König, die viele Facetten von Thomas Hardys Werk ausleuchtet.

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – mein Lese-Exemplar

Thomas Hardy, »Der Bürgermeister von Casterbridge« (OT: »The Life and Death of the Mayor of Casterbridge: A Story of a Man of Charakter«, 1886), Roman, 410 Seiten (ohne Anhang, biographische Daten, Wessex-Karte und Nachwort), übersetzt von Eva-Maria König (von ihr sind ebenfalls Anhang und Nachwort), erschienen 1985, Verlag Philipp Reclam Jun., Stuttgart.

Dieses alte Exemplar ist kaum noch zu finden, aber es gibt ein neueres vom Reclam Verlag, ebenfalls in der vorzüglichen Übersetzung von Eva-Maria König:

»Der Bürgermeister von Casterbridge« – Quellen und Weblinks

Dieser Beitrag vom 12.11.2021 wurde am 2.6.2023 aktualisiert und nochmals veröffentlicht – anlässlich des Geburtstages von Thomas Hardy (2.6.1840).

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