„Der Mord in der Spitalgasse“ (1841) – Einleitung

„Der Mord in der Spitalgasse“ von Edgar Allan Poe – was sucht der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809-1849) in einem Blog wie Meine Leselampe, der schwerpunktmäßig auf viktorianische Literatur ausgerichtet ist?

Nun, Poe hatte viele Bezugspunkte zu England. Er verbrachte seine Jugendjahre dort, besuchte Schulen und Internate (1), (2). Viele Jahre später, längst zurück in seiner Heimat, lernte er Charles Dickens während dessen Amerikareise 1842 kennen. Zweimal trafen sich die Schriftsteller in Philadelphia.

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Die englischen Kollegen schätzten Edgar Allan Poe sehr, seine Schauergeschichten und Detektiverzählungen beeinflussten die viktorianische Literatur stark. Wilkie Collins in „Die Frau in Weiß“ und „Der Monddiamant“ oder Charles Dickens in „Bleak House“ (um nur einige Beispiele zu nennen) setzten dieses Genre fort.

(Bild rechts: wikiImages/Pixabay)

Und wenn Ihr die Geschichte lest, die ich Euch heute vorstelle, erkennt Ihr auch bei Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“-Krimis – Jahrzehnte später – Parallelen zu Poes Detektivgeschichten.

Und nun Vorhang auf zu „Der Mord in der Spitalgasse“ – heute übrigens bekannt unter dem Übersetzungstitel „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ oder „Die Morde in der Rue Morgue“ (OT: „The Murders in the Rue Morgue“).

Die Kurzgeschichte wurde 1841 erstmals in der Zeitschrift „Grahams Magazine“ veröffentlicht.

"Der Mord in der Spitalgasse"

Übrigens: die Morgue, das Pariser Leichenschauhaus, in der Rue Morgue gelegen, war damals ein Publikumsmagnet. Denn dort wurden Leichen öffentlich zur Schau gestellt – Eintritt frei.

(Bild links: Mysticartdesign/Pixabay)

„Der Mord in der Spitalgasse“ – zum Inhalt

Poe beginnt seine Erzählung mit theoretischen Betrachtungen über den Unterschied zwischen Klugheit und der Fähigkeit zu analytischem Denken, über den noch größeren Unterschied zwischen Phantasie und wirklicher Einbildungskraft. Für Edgar Allan Poe gilt:

„Man wird in der Tat immer finden, dass die klugen Menschen phantasiereich und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind.“

Seite 299 aus E.A. Poe, „Der Mord in der Spitalgasse“, in der Sammlung „Phantastische Geschichten“ (26 Erzählungen und Gedichte), 397 Seiten, übersetzt von Hans Wollschläger („Der Rabe“) und A. Möller-Bruck, erschienen 1981 im Verlag Lothar Borowsky, München.

Als einen wahren Analytiker führt Poe, der Ich-Erzähler, seinen Freund C. August Dupin (in der Möller-Bruck-Übersetzung ist es eben August ohne französisches „e“ am Ende) ein: belesen und mit hohem Einbildungsvermögen.

Er lernt den verarmten Adeligen während seines Paris-Aufenthaltes kennen, die Männer sind sich sympathisch und ziehen zusammen in eine Wohnung auf dem Faubourg Saint Germain.

"Der Mord in der Spitalgasse"

Beide lieben die Dunkelheit, so verhüllen sie tagsüber die Fenster, lesen, schreiben und diskutieren beim Schein der Kerzen. Spaziergänge unternehmen sie des nachts, wenn die Stadt von Menschen verlassen und dunkel ist.

(Bild rechts: Schäferle/Pixabay)

Dupin hat seine Fähigkeit zur Analyse so verfeinert, dass er Poes Gedanken in einer Situation anhand dessen Mimik, Stimmklang, Körperhaltung in Kombination mit der Erinnerung an frühere Gespräche logisch entschlüsseln kann.

Eines Tages berichten die Pariser Zeitungen von einem grauenhaften und äußerst mysteriösen Doppelmord an der Witwe L’Espanaye und ihrer Tochter. Ort der Tragödie: die Spitalgasse (Rue Morgue).

Die Tochter wurde bestialisch erwürgt und mit Gewalt in einen Kaminschacht gezwängt. Die Kraft mehrerer Männer war nötig, um den Körper der jungen Frau zu befreien. Die Mutter fand man zerschmettert auf dem Hinterhof, die Kehle so tief aufgeschlitzt, dass ihr Kopf abfiel, als man die Leiche aufhob. Einige Stränge Haare waren ihr mitsamt Kopfhaut ausgerissen worden.

„Alle Knochen des rechten Armes und des rechten Beines waren mehr oder weniger gebrochen. Das linke Schienenbein und die Rippen der linken Seite waren zersplittert. Der ganze Körper war in grauenerregender Weise zerquetscht und blutunterlaufen.“

Seite 310 aus E.A. Poe, „Der Mord in der Spitalgasse“, in der Sammlung „Phantastische Geschichten“ (26 Erzählungen und Gedichte), 397 Seiten, übersetzt von Hans Wollschläger („Der Rabe“) und A. Möller-Bruck, erschienen 1981 im Verlag Lothar Borowsky, München.

Hilferufe aus dem Haus hatten Nachbarn alarmiert, die beim Aufbrechen der Tür und beim Eintreten zwei verschiedene Stimmen gehört haben wollten: eine schrille und eine barsche. Merkwürdig: die Zeugen, selbst unterschiedlicher Nationalitäten (multi-kulti ist keine Erfindung der Neuzeit), konnten die Sprache der einen Person nicht verstehen, die andere wurde als Französisch erkannt. Doch wer hatte gesprochen? Das verwüstete Tat-Zimmer und alle Fenster waren verschlossen, im ganzen Haus wurde kein Mensch angetroffen. Gestohlen wurde augenscheinlich nichts.

Die Pariser Polizei tappt im Dunkeln und nimmt einen Geldboten fest, der einige Tage vor dem Doppelmord den beiden Frauen 4000 Franc überbracht hatte. Da das Geld am Tatort gefunden wurde, wundern sogar wir Nicht-Analytiker uns über diesen Verdacht und die Festnahme.

Dupin wird aktiv, um des analytischen Vergnügens willen und weil er dem Geldboten einen Gefallen schuldig ist, will er den Mord aufklären. Mit Einwilligung des Pariser Polizei-Präfekten inspizieren Poe und Dupin (wie später Watson und Holmes) methodisch genau den Tatort und die Leichen der Frauen, die dort noch liegen.

Anhand von an sich unauffälligen Gegenständen und Hinweisen wie

  • einem zerbrochenen Nagel,
  • halboffenen Fensterläden in Nähe eines Blitzableiters,
  • ein paar Haaren in der Hand der Mutter,
  • einem fettigen Haarband,
  • der Uneinigkeit der Zeugen über Stimme und Sprache der/des Täter/s,
  • der Verwüstung ohne Diebstahl und
  • der unglaublichen Kraft und Rohheit, mit der die Frauen ermordet wurden,

löst Dupin den Fall.

„Die Polizei ist verwirrt, weil anscheinend jedes Motiv, wenn nicht zum Morde selbst, so doch zu der Scheußlichkeit des Mordes fehlt. (…) Aber gerade dieses Abweichen vom Gewöhnlichen ist für die Vernunft ein Fingerzeig, der sie (die Polizeibeamten) auf die Straße zur Wahrheit weist. Bei Nachforschungen von der Art der unserigen sollte man nicht so sehr fragen: «Was ist geschehen?» wie vielmehr: «Was ist geschehen, was noch niemals vorher geschehen ist?»“.

Seite 313 aus E.A. Poe, „Der Mord in der Spitalgasse“, in der Sammlung „Phantastische Geschichten“ (26 Erzählungen und Gedichte), 397 Seiten, übersetzt von Hans Wollschläger („Der Rabe“) und A. Möller-Bruck, erschienen 1981 im Verlag Lothar Borowsky, München.

Dupins unglaubliche Schlussfolgerung aus seinen Untersuchungen lautet: der Täter sei ein Orang-Utan, der einem Matrosen gehört habe und diesem mitsamt Rasiermesser entwichen sei.

"Der Mord in der Spitalgasse"

Und tatsächlich: per Zeitungsannonce lockt Dupin einen französischen Matrosen zu sich und bringt ihn dazu, die Morde seines entlaufenen Orang-Utan zu „gestehen“.

(Bild links: biggerthanpluto/Pixabay)

Einen Mörder, den man einsperren und seiner gerechten Strafe zuführen könnte, gibt es damit nicht.

„Der Mord in der Spitalgasse“ – mein Fazit

Wenn man Poes melodische, schwärmerische und zugleich kraftvollen Gedichte kennt, wenn man seine beklemmenden und übernatürlichen Schauergeschichten (mit einem Hauch von Irrsinn) liebt, muss man sich in seine logisch aufgebauten Detektivgeschichten erstmal einlesen und mit dem klaren und nüchternen Stil warm werden.

Hier geht es um analytische Deduktion (Sherlock Holmes lässt grüßen) und Induktion, blutige Bilder und unheimliche Vorgänge liefert Poe allein über die zitierten Zeitungsberichte. Streckenweise finde ich die Geschichte höchst spannend, dann ermüden mich an manchen Stellen Dupins analytische Erklärungen und Abhandlungen in ihrer Ausführlichkeit.

Trotzdem wollte ich die ganze Zeit über wissen, wie „Der Mord in der Spitalgasse“ sich auflöst und blieb bis zum überraschenden Ende dabei. Und dachte, wie vermutlich der Polizei-Präfekt auch, was fange ich jetzt mit so einem „Mörder“ an?

Die Parallelen zu Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“ (Poe als Watson, Dupin als Holmes) werden in zwei folgenden Geschichten um den „Detektiv aus Liebe zur logischen Analyse“, Auguste Dupin, noch deutlicher:

"Der Mord in der Spitalgasse"

in „Das Geheimnis um Marie Rogêts Tod“ und „Der entwendete Brief“.

(Bild rechts: ericmv/Pixabay)

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Das Ende ist jedesmal verblüffend, manchmal – vom Autor so gewollt – unbefriedigend. Denn das altbewährte Krimi-Prinzip: ein Mord wird gesühnt durch die Überführung und Bestrafung des Mörders, bleibt Edgar Allan Poe uns schuldig…

„Der Mord in der Spitalgasse“ – mein Lese-Exemplar

E.A. Poe, „Phantastische Geschichten“, daraus „Der Mord in der Spitalgasse“, Sammlung (26 Erzählungen und Gedichte), 397 Seiten, übersetzt von Hans Wollschläger („Der Rabe“) und A. Möller-Bruck, erschienen 1981 im Verlag Lothar Borowsky, München.

Mein Lese-Exemplar gibt es nur noch antiquarisch, es gibt aber günstige Alternativen, z. B.:

Edgar Allan Poe „Unheimliche und phantastische Geschichten“, 3 Bände (gebunden), 1632 Seiten, herausgegeben von Kim Landgraf, erschienen 2018 im Anaconda Verlag.

„Der Mord in der Spitalgasse“ – Quellen und Weblinks

(1) Poe, eine kurze Biographie auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/poe-biographie/

(2) über Poe -> https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Allan_Poe

(3) über die Morgue in Paris -> https://bonjourparis.com/history/the-paris-morgue-a-gruesome-tourist-attraction-in-19th-century/

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