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»Der Name ihres Vaters« – doppelte Danksagung
Heute beginne ich einmal anders, denn ich möchte mich zunächst bei Dr. Sebastian Vogel dafür bedanken, dass er wieder einen der »Vergessenen Schätze der englischen Literatur« in Angriff genommen und neu übersetzt hat: »Der Name ihres Vaters« der Schriftstellerin Florence Marryat. Meine Leselampe-Fans kennen seine Arbeit bereits,
ich habe vor drei Jahren Dr. Vogels Übersetzung des Wilkie-Collins-Romans »Die Namenlosen» vorgestellt [1] und ein Interview mit ihm [2] geführt.
(Bild links: eigene Fotografie)
Und ich möchte mich natürlich auch diesmal herzlich für das kostenlos zugesandte Rezensionsexemplar bedanken! Und nun geht es zur Sache: Florence Marryat – ihr Leben und ihr Roman »Der Name ihres Vaters« (OT: »Her Father’s Name«), der im Jahr 1876 erstmals erschienen ist.
»Der Name ihres Vaters« – einige Fakten über Florence Marryat
Vielen Lesern dürfte Florence Marryat [3] nicht bekannt sein, obwohl sie äußerst produktiv war! Schätzungsweise 68 Romane hat sie verfasst, dazu kommen Novellen, Theaterstücke, Essays, Reiseberichte, Sachbücher über Spiritismus, eine Biographie ihres Vaters und Zeitschriftenartikel. Sie hat nicht nur viel und schnell geschrieben, sondern ihre Talente auch in anderen Bereichen entfaltet. Mit ihrem ersten Ehemann, einem Offizier des britischen Kolonialheeres, bereiste sie Indien.
Später agierte sie als Schauspielerin und Sängerin, sie leitete das Adelphi-Theater in London, gab eine Zeitschrift heraus, stand einer literarischen Bildungsanstalt vor und beschäftigte sich in ihren gesetzteren Jahren mit Spiritualismus.
Florence war die Tochter des Marineoffiziers und Schriftstellers Frederick Marryat [4], der unter anderem mit Charles Dickens bekannt war. Geboren wurde sie 1833 in Brighton, ihre Bildung verdankte sie – wie so viele junge Damen der viktorianischen Zeit – diversen Gouvernanten sowie der gut sortierten Bibliothek ihres Vaters [5].
Ihr Liebesleben war genauso turbulent und ausgefüllt wie ihre berufliche Laufbahn. Florence Marryat war zweimal verheiratet. Ihren ersten Gatten betrog sie – mit dem Mann, den sie nach der Scheidung heiratete. Diese Ehe hielt nur kurz, aber sie wurde mit einem wesentlich jüngeren Liebhaber doch noch glücklich. Über die Zahl ihrer Kinder machen unterschiedliche Quellen unterschiedliche Angaben (wie bei fast allem in Florences Fall) – sucht es Euch aus: sieben oder acht sollen es gewesen sein. 1899 starb Florence Marryat in London und wurde viel zu schnell vergessen.
Vielleicht lag es ja daran, dass ihre Werke für das 19. Jahrhundert zu offen, zu wenig prüde waren – wie sie. Florence Marryat packte gesellschaftliche Tabu-Themen wie Alkoholismus, Ehebruch, Gewalt gegen und Unterdrückung der Frauen an. Daher wurden ihre Erzählungen gern als Sensationsromane abgestempelt und galten sicher nicht als Vorzeigelektüre für junge Damen aus gutem Hause. Schau’n wir mal, was dran ist …
»Der Name ihres Vaters« – die Handlung
Leona Lacoste lebt mit ihrem Vater in Brasilien, zurückgezogen vom gesellschaftlichen Leben in einer kleinen Ortschaft nah bei Rio de Janeiro. Das erste Mal begegnen wir ihr in einem Wald, sie raucht, trägt Pistole und Messer an ihren Hüften und deklamiert aus der »Jungfrau von Orléans«. Ihr Jugendfreund Christobal Valera kommt hinzu und die Leser merken gleich, dass er der ergebene Sklave Leonas ist, sie in ihm aber nur einen Bruder sieht.
Viel wichtiger ist Leona die Sorge um ihren Vater, einen sowieso schon melancholischen Mann, der nun auch noch finanzielle Verluste hat hinnehmen müssen.
(Bild rechts: eigenes Foto)
Sein Geschäftspartner, der bösartige Ribeiro, bedrängt ihn: entweder er erhält seinen Anteil aus der Fehlspekulation zurück oder Leona zur Frau. Andernfalls droht er, Lacostes Lebensgeschichte überall herumzuerzählen. Leona jedoch weigert sich, den schmierigen Ribeiro zu heiraten, daraufhin bringt ihr Vater sich um. Ribeiro lässt nicht locker. Als Leona ihm trotzt, konfrontiert er sie mit der Tatsache, dass ihr Vater in Wirklichkeit George Evans hieß, aus England stammte und wegen Mordes fliehen musste. Nun gibt es für Leona nur noch ein Ziel: den Namen ihres Vaters reinzuwaschen!
Sie verlässt Brasilien in Männerkleidung, duelliert sich auf der Schiffsreise, wird in New York eine beliebte Schauspielerin. Christobal ist immer an ihrer Seite, denn er hat in New York eine Stelle angetreten. Leona erfährt, dass ihr Jugendfreund in Kürze nach England reisen soll, um Handelsbeziehungen zur Firma »Evans und Troubridge« zu knüpfen. Er erkrankt jedoch und sie schlüpft kurzerhand in seine Rolle. Als Don Christobal Valera erhält sie Zugang zur Familie ihres Vaters und macht sich daran, das Geheimnis um den Mord, der vor so vielen Jahren geschah, zu lüften …
»Der Name ihres Vaters« – meine Bewertung
Ja, zugegeben – »Der Name ihres Vaters« hat was von einem eilig runtergeschriebenen Sensationsroman. Die Charaktere bleiben flach, die Beschreibungen der Heldin widersprechen sich manchmal. Und es ist unglaubwürdig, was Leona Lacoste so alles in Männerhosen fertig bringt. Eine Tarnung über so lange Zeit und in engstem Kontakt mit anderen aufrechtzuerhalten, ist nicht möglich.
Aber – die Autorin Florence Marryat verleiht ihrer Schwarz-Weiß-Malerei durchaus Tempo und Spannung und zeigt manchmal eine feine Ironie:
»Eine Frau mit einem Verehrer ist wie ein Hund am Futtertrog. Sie mag ihn selbst nicht auserwählt haben, aber sie wird nicht zulassen, dass eine andere ihn gewinnt. Und diese aus Egoismus und Eitelkeit geborene Neigung hat das Geschlecht nur allzu oft zu ernsten Irrtümern verleitet; denn bevor sie einen Untertan verlieren, akzeptieren sie einen Herrscher, und die Veränderung tritt plötzlicher ein als es ihnen hinterher lieb ist.«
Florence Marryat, Der Name ihres Vaters, Roman, Taschenbuch, 392 Seiten, Kerpen, 2024, Seite 378.
Ich denke, neben der Weltliteratur aus der viktorianischen Zeit – wie sie Dickens, Eliot, Bulwer-Lytton, Hardy und viele andere verfassten –, haben die trivialen Werke unbedingt ihre Berechtigung. Schließlich wollte und will nicht jeder in einem Roman über philosophische, politische, moralische oder religiöse Betrachtungen nachdenken und sich mit griechischen oder lateinischen Zitaten herumquälen. Lesen zum harmlosen Zeitvertreib und nicht zu Bildungszwecken muss schließlich auch mal sein und kann man ohne schlechtes Gewissen zugeben (ich sage nur: Georgette Heyer; ihre Romane habe ich mit vierzehn verschlungen!).
Daher freue ich mich, dass Florence Marryats Roman »Der Name ihres Vaters« so trefflich neu übersetzt wurde. Ich hoffe auf weitere »Vergessene Schätze der englischen Literatur«!
»Der Name ihres Vaters« – Quellen und Weblinks
[1] Collins, Wilkie, Die Namenlosen -> https://www.meineleselampe.de/die-namenlosen/
[2] Interview mit Dr. Sebastian Vogel -> https://www.meineleselampe.de/dr-sebastian-vogel/
[3] Vgl. Wikipedia, Florence Marryat, 24.8.2023, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Florence_Marryat&oldid=236712409 [31.7.2024]
[4] Vgl. Wikipedia, Frederick Marryat, 15.2.2024, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Frederick_Marryat&oldid=242228454 [31.7.2024]
[5] Vgl. florencemarryat.org, Florence Marryat – novelist, editor, playwright, spiritualist …, Catherine Pope, 2024, online: https://florencemarryat.org/ [31.7.2024]
»Der Name ihres Vaters« u.v.m. – »Vergessene Schätze der englischen Literatur«
In seiner Reihe »Vergessene Schätze der Literatur« hat Dr. Sebastian Vogel zuvor und bisher diese Neu-Übersetzungen veröffentlicht:
Wilkie Collins, Die Namenlosen, Roman, Taschenbuch, 756 Seiten, Kerpen, 2017.
Wilkie Collins, Eine Frau will Gerechtigkeit, Roman, Taschenbuch, 580 Seiten, Kerpen, 2018.
Mary Elizabeth Braddon, Wyllards wundersame Wege, Roman, Taschenbuch, 662 Seiten, Kerpen, 2020.
Ellen Wood, Das Geheimnis von East Lynne, Roman, Taschenbuch, 684 Seiten, Kerpen, 2021.
Und natürlich aktuell: Florence Marryat, Der Name ihres Vaters, Roman, Taschenbuch, 392 Seiten, Kerpen, 2024.
Alle Bücher sind natürlich auch im Buchhandel erhältlich!
Weitere Infos zur Arbeit von Dr. Sebastian Vogel findet Ihr hier -> https://www.uebersetzungen-vogel.de/schaetze.html.