Inhalt
Der Pfarrer von Wakefield – zur Einstimmung
»Der Pfarrer von Wakefield« – warum taucht ein Roman aus dem Jahre 1766 auf einem Blog über viktorianische Literatur auf? Nun, ganz einfach: der irische Verfasser Oliver Goldsmith hat mit seinem einzigen Roman den Lesegeschmack und Schreibstil des 19. Jahrhunderts beeinflusst -> https://www.meineleselampe.de/und-ein-pfarrer-leselampe-vorschau-23-kw-10/.
Und ab und zu schaue ich einfach gern über den Tellerrand von Meine Leselampe, denn ein Jahrhundert ist verwurzelt im Jahrhundert davor und fließt in das Jahrhundert danach ein. Das Schrifttum des 18. Jahrhunderts beeinflusste das des 19. Jahrhunderts ebenso wie AutorInnen, die noch in der Epoche Queen Victorias geboren wurden, im 20. Jahrhundert nach neuen literarischen Impulsen suchten und moderne Stilrichtungen begründeten. Alles ist miteinander verwoben…
Der Pfarrer von Wakefield – zum Inhalt
»The Vikar of Wakefield. A Tale. Supposed to Be Written by Himself.« lautet der Originaltitel.
Der Ich-Erzähler der Geschichte, Landpfarrer Dr. Charles Primrose, ist ein aufrichtiger und frommer Mensch.
(Bild links: FaithGiant/Pixabay)
Oliver Goldsmith beschreibt Primrose in seinem einführenden Artikel »An den Leser« folgendermaßen:
»Der Held dieser Erzählung vereinigt die drei größten Charaktere auf Erden in sich: Er ist Geistlicher, Landwirt und Familienvater. Er ist ebenso bereit zu lehren, als zu gehorchen, ebenso demütig im Glück als groß im Missgeschick.«
Goldsmith, Oliver, Der Pfarrer von Wakefield, Dortmund/Gütersloh, 1986, Vorwort.
Jener Primrose liebt seine vielköpfige Familie, als da wären: Ehefrau Deborah, der älteste Sohn George, die schönen Schwestern Olivia und Sophie, Sohn Moses und die beiden Jüngsten Dick und Bill. Primrose ist von Haus aus finanziell gut ausgestattet und kann daher sein Gehalt an die Armen seiner Gemeinde verteilen. Gesellschaftlich verkehren er und die Seinen allerdings nicht mit den Bedürftigen, sondern mit den reichen Nachbarn – hier haben wir schon einen der kleinen, allzu menschlichen Charakter-Widersprüche, die Goldsmith seinem Pfarrer eingepflanzt hat.
Auch eine gewisse Form der Eitelkeit gehört zu den Schwächen der Primroses. Charles tut sich viel auf seine Religiosität und sein Wissen zugute, seine älteren Söhne auf ihre Bildung,
die Damen des Hauses auf ihre Manieren, ihr hausfrauliches Geschick, ihre innere und äußere Schönheit und gern auch auf modischen Putz.
(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)
Eine harmonische Familie, vom Glück gesegnet – das scheint Goldsmith zu viel heile Welt gewesen zu sein und er lässt über die Pfarrersfamilie ein Unglück nach dem anderen kommen. Primrose verliert sein Vermögen, die Verlobung seines ältesten Sohns George geht deswegen in die Brüche. George muss nach London, um dort eine Anstellung zu finden und Primrose sucht sich eine neue Pfarre, die ein gutes Einkommen gewährt und der Familie zudem noch einen kleinen Pachthof zum Bewirtschaften bietet.
Primrose bleibt guter Dinge, er vertraut seinem Gott und unterwirft sich den ihm auferlegten Prüfungen. Die Stimmung seiner Frau und Töchter belebt sich zusehends, als sie hören, dass der junge Gutsherr der Gegend, ein gewisser Thornhill, ein charmanter Frauenheld sein soll. Wer weiß, ob sich aus diesem Umstand nicht Chancen auf eine gute Partie ergeben. Leider ergibt sich daraus letztendlich die Ent- und Verführung der ältesten Tochter Olivia. Ein neuer Freund und Bekannter der Primroses, ein gewisser Herr Burchell, hatte die Familie vergeblich gewarnt, sie wollten nicht hören und Burchell fiel bei ihnen in Ungnade.
Primrose macht sich auf, seine verlorene Tochter zu suchen und erlebt so einiges: Kaum ist er unterwegs, erkrankt er, stößt auf wohlmeinende Helfer und alte Bekannte, findet seinen Sohn George unter Schauspielern wieder und entdeckt endlich die verlassene und unglückliche Olivia. Durch glückliche Fügungen erhält George eine neue Anstellung in London und Primrose bringt Olivia nach Hause.
Der Pfarrer und seine Tochter treffen in der Nacht ein, gerade noch rechtzeitig, denn ihr Heim brennt lichterloh. Primrose rettet all seine Lieben aus den Flammen, verbrennt sich seinen Arm. Nachbarn eilen zur Hilfe herbei, doch das Hab und Gut der Primroses ist verloren. Nicht genug des Elends: Olivia wird schwermütig, verliert ihre Lebensfreude und Lebenskraft und
Primrose landet durch die rachelüsternen Machenschaften Thornhills, den er für die Verführung seiner Tochter geschmäht hatte, im Schuldengefängnis.
(Bild links: Bernhard Rohm/Pixabay)
Doch der wackere Pfarrer hält noch immer an seinem Glauben fest. Er missachtet sein eigenes Leid, bekehrt die Gefangenen, spricht seiner Frau und seinen Kindern Mut zu und gibt allen ein leuchtendes Vorbild – bis er erfährt, dass Olivia gestorben und auch Sophie entführt worden ist. Und man seinen ältesten Sohn in Ketten zu ihm in den Kerker schleppt. George soll wegen eines tödlichen Duells gegen Thornhill hingerichtet werden… Da erlischt Primroses Zuversicht auf eine Wendung zum Guten, er spürt den eigenen Tod nahen und bereitet George und sich mit einer tröstenden Predigt auf das Ende vor:
»Wenn wir Räume durcheilen, die grenzenlos sind wie das Weltall – wenn wir uns sonnen in dem Glanze ewiger Seligkeit – endlose Jubelhymnen singen – und keinen Herrn zu fürchten haben; der uns droht oder verfolgt – und auf immer das Urbild der ewigen Güte vor Augen haben – wenn ich all dies bedenke, so wird mir der Tod zu einem heiteren Friedensboten.«
Goldsmith, Oliver, Der Pfarrer von Wakefield, Dortmund/Gütersloh, 1986, Seite 157.
Primrose hat eben seine Fassung wiedergefunden, da erhält er unvermittelt eine überraschende Nachricht und den Besuch eines alten Bekannten, dem er viel Abbitte zu leisten hat: Herr Burchell, der in Wahrheit jemand ganz anderes ist…
Der Pfarrer von Wakefield – mein Fazit
Ein wunder-sonder-barer Roman: in ihm finden sich die humorvoll-übertriebenen Elemente des Schelmenromans (als Beispiel wäre Tobias Smollets »Die Abenteuer des Peregrine Pickle« von 1751 zu nennen), die im Jahrhundert darauf auch Charles Dickens in «Die Pickwickier« übernommen und verfeinert hat [1]. Dazu gesellen sich auflockernde Balladen und Gedichte ebenso wie moralische Betrachtungen, philosophische Diskussionen, religiöse Belehrungen und Kritik an Gesellschaft und Justiz des 18. Jahrhunderts.
Ein Gutmensch gerät in die Spirale des Unheils und als alles verloren scheint, schickt Goldsmith einen anderen Gutmenschen, der wesentlich mehr Einfluss und Mittel hat und die Sache wieder einrenkt – eine Art »deus ex machina« [2], wie wir ihn aus den antiken Tragödien kennen. Irgendwie ist dieses Werk ganz »aus unserer Zeit heraus«, fesselt aber dennoch ungemein. Ich habe mir überlegt, wie ich heute einem Menschen wie Dr. Charles Primrose begegnen würde? Sähe ich ihn als einen spinnerten Eiferer? Oder würde ich seinen Anstand und seine Wahrhaftigkeit (Werte, die rar geworden sind) schätzen?
Ich weiß es noch nicht genau, was meint Ihr?
Lest irgendwann einmal »Der Pfarrer von Wakefield« – es wird nicht Euer Schaden sein – und wenn Ihr mögt, teilt mir Eure Ansicht mit.
(Bild rechts: Jo Justina!Pixabay)
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Der Pfarrer von Wakefield – mein Leseexemplar (Werbung)
Goldsmith, Oliver, »Der Pfarrer von Wakefield«, Roman, übersetzt von Ernst Susemihl, 179 Seiten (ohne Nachwort und Anhang), Dortmund/Gütersloh 1986.
Alternativen zu meinem alten Exemplar:
Goldsmith, Oliver, »Der Pfarrer von Wakefield«, Berliner Ausgabe 2018 (Hrsg. Theodor Borken), übersetzt von Ernst Susemihl, 172 Seiten, Henricus Edition Deutsche Klassik.
oder als gebundene Ausgabe:
Goldsmith, Oliver, »Der Pfarrer von Wakefield«, übersetzt von Ernst Susemihl, 172 Seiten, Hofenberg 2018.
Der Pfarrer von Wakefield – Quellen und Weblinks
[1] »Die Pickwickier« auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/buchtitel/die-pickwickier/
[2] Vgl. Wikipedia, Deus ex machina, Wikipedia-AutorInnen, 29.12.2022, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Deus_ex_machina&oldid=229302950, abgerufen am 17.3.2023.