„Der Selbstmörderclub“ und andere Erzählungen“ – Einführung

„Der Selbstmörderclub und andere Erzählungen“ lautet der Titel eines Sammelbandes des schottischen Viktorianers Robert Louis Stevenson (1850-1894), der den meisten von uns durch seinen Abenteuerroman „Die Schatzinsel“ sowie „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ bekannt sein dürfte.

In dem mir vorliegenden Exemplar sind die zwei Zyklen „Der Selbstmörderclub“ und „Der Diamant des Rajahs“ (beide 1878 in Fortsetzungen erschienen und 1882 dann in Band 1 der „New Arabian Nights“), die „Sonderbare Geschichte von Dr. Jekyll und Herrn Hyde“ sowie die Erzählung „Markheim“ (1885 in Zeitschriften, 1887 in einer Sammlung) veröffentlicht -> https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-37/, -> https://www.meineleselampe.de/meine-leselampe-kw-37-vorschau/

„Sonderbare Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ klammere ich heute aus, die habe ich bereits unter dem Titel „Der seltsame Fall des…“ vorgestellt -> https://www.meineleselampe.de/dr-jekyll-und-mr-hyde/.

Stevenson zeigt sich in den Erzählungen über den Selbstmörderclub, den Diamanten des Rajahs sowie den Mörder Markheim (mal wieder) von einer ganz anderen Seite. Er dürfte zu den vielfältigsten Schriftstellern seiner Zeit gehören mit

  • Abenteuer- und Jugendromanen („Der Flaschenteufel“ erschienen 1891/1892, „Die Schatzinsel“ von 1883),
  • historischen Romanen (u.a. „Der Herr von Ballantree“ aus dem Jahr 1889),
  • historisch-abenteuerlichen Romanen („Verschleppt – Die Erinnerungen des David Balfour an seine Abenteuer im Jahr 1771“ von 1886) oder
  • psychologisch-schaurigen Romanen („Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“).

Kurzum, Stevenson hat einige Genres bedient.

Genug der trockenen Fakten, gehen wir – auszugsweise – ans Werk!

„Der Selbstmörderclub“ – zum Inhalt

„Geschichte des jungen Mannes mit den Sahnetörtchen“

Prinz Florizel von Böhmen weilt in London und erfreut sich dort größer Beliebtheit. Kein Wunder, ist der Thronfolger doch wohlhabend, freizügig, gebildet und gütig. Obwohl Florizel alle Türen und Vergnügungen offenstehen, plagt ihn von Zeit zu Zeit die Langeweile. Dann pflegt er mit seinem Freund und Oberstallmeister Oberst Geraldine – sorgfältig verkleidet und unter falschen Namen – verruchte oder gefährliche Etablissements und Veranstaltungen zu besuchen.

Bei einem dieser Ausflüge treffen die beiden auf einen jungen Mann, der in einer Bar Sahnetörtchen verteilt und die isst, die er nicht los wird. Sie folgen ihm von Kneipe zu Kneipe und kommen schließlich ins Gespräch. Der junge Mann erzählt ihnen, dass er die Sahnetörtchen von seinem letzten Geld gekauft hat, um sie zu verschenken.

Nur 40 Pfund habe er behalten – sein Eintrittsgeld für den Selbstmörderclub, letzte Zuflucht für Lebensmüde, die die Tat nicht an sich selbst vollstrecken können oder möchten.

"Der Selbstmörderclub"

Prinz Florizel und Oberst Geraldine lassen sich in den Club einführen, können den Präsidenten von ihren Selbstmordabsichten überzeugen und werden in die dortigen Gepflogenheiten eingeweiht.

(Bild links: Rudy and Peter Skittering/Pixabay)

Ein Lebensmüder erlöst den anderen – allabendlich entscheidet ein Kartenspiel über die Rollenverteilung.

Wer ein Treff-As zieht, der tötet…

(Bild rechts: Here and now, unfortunately, ends my journey on Pixabay / Pixabay)

… und wer ein Pik-As erwischt, wird vom Leben zum Tode befördert.

„Wenige Sekunden später drehte der junge Mann mit den Sahnetörtchen das Treff-As um. Vor Schrecken erstarrt blieb er sitzen, die Karte klebte noch an seinen Fingern; er war doch nicht hierhergekommen, um zu töten; er war gekommen, um getötet zu werden.“

Seite 34, „Geschichte des jungen Mannes mit den Sahnetörtchen“, aus Robert Louis Stevenson, „Der Selbstmörderclub und andere Erzählungen“, 304 Seiten, Neubearbeitung nach verschiedenen deutschen Erstausgaben, Herausgeber R.W. Pinson, erschienen 1977 im Moewig Verlag München.

Das Pik-As hat Mr. Malthus gezogen – ein gelähmter älterer Herr, der den Club seit zwei Jahren besucht und mehr aus Schaulust denn aus Todessehnsucht dabei ist:

„Die stärkste Leidenschaft jedoch ist Furcht; mit Furcht müssen Sie spielen, wenn Sie den intensivsten Lebensgenuss kosten wollen.“

Seite 31, „Geschichte des jungen Mannes mit den Sahnetörtchen“, aus Robert Louis Stevenson, „Der Selbstmörderclub und andere Erzählungen“, 304 Seiten, Neubearbeitung nach verschiedenen deutschen Erstausgaben, Herausgeber R.W. Pinson, erschienen 1977 im Moewig Verlag München.

Am nächsten Tag lesen Prinz Florizel und Oberst Geraldine in der Zeitung, dass ein Mr. Malthus eine Brücke hinabgestürzt sei, offiziell wird die Geschichte als Unglücksfall gewertet.

Die Meldung ernüchtert den Prinzen nicht – trotz aller Beschwörungen des ihm treu ergebenen Geraldine spielt er am Abend erneut im Selbstmörderclub und zieht – das Pik-As!

"Der Selbstmörderclub"

Da geht dem abenteuerhungrigen Florizel auf, dass er sein Leben verspielt hat, entsetzt erkennt er seinen Wahn und bereut zutiefst.

(Bild links: Here and now, unfortunately, ends my journey on Pixabay / Pixabay)

Bedrückt macht er sich auf den Heimweg, er rechnet damit, in den nächsten Minuten getötet zu werden. Tatsächlich – schon an der nächsten Straßenecke überfallen ihn drei Unbekannte und Prinz Florizel macht sich auf sein Ende gefasst…

Kann Prinz Florizel die Attacke überleben? So würde ich normalerweise enden, um nicht zu viel zu verraten. Das geht im Falle der Erzählung von Robert Louis Stevenson nicht, denn alles ist miteinander verwoben!

Geraldine hat den Überfall arrangiert, so bringt er Florizel in Sicherheit. Auch der per Karte geloste Mörder wurde überwältigt.

Prinz Florizel löst den Selbstmörderclub auf, verhilft großmütig den Lebensmüden zu einem besseren Dasein und verbannt den Präsidenten des Selbstmörderclubs ins Ausland. Ihm zur Seite gestellt wird der jüngere Bruder von Oberst Geraldine, der den Präsidenten auf dem Kontinent in einem Duell töten soll.

Zu guter Letzt zitiert Stevenson seinen arabischen Autor, von dem die Erzählung stammen soll. Dieser erwähnt kurz, dass das Leben des jungen Mannes mit den Sahnetörtchen von nun an glücklich verlaufen wird und empfiehlt allen, die mehr über die Abenteuer des Prinzen Florizel erfahren wollen, das nächste Kapitel zu lesen:

„Die Geschichte des Arztes mit dem Saratoga-Koffer“

Der junge Amerikaner Silas Q. Scuddamore – Robert Louis Stevenson beschreibt ihn als Mann „von einfachem, arglosen Gemüt“ – besucht Paris. In einem Hotel untergekommen, möchte er das Treiben und den Flair der französischen Hauptstadt erkunden. Er macht im Hotel die Bekanntschaft eines alten Arztes, Dr. Noel und lernt seine reizende Zimmernachbarin Zéphryne kennen, die ihm Avancen macht.

Nichts ahnend besucht Scuddamore eine Karnevalsveranstaltung und sieht Madame Zéphryne in einem Gespräch mit einem anderen Mann (der von der Beschreibung her an den Präsidenten des Selbstmörderclubs erinnert).

Als Scuddamore zurück in sein Hotelzimmer kommt, findet er eine Leiche in seinem Bett. Er gerät außer sich und sieht sich in seiner Verzweiflung schon angeklagt und zum Tode verurteilt!

Zimmernachbar Dr. Noel rät dem jungen Amerikaner, die Leiche in seinem großen Saratoga-Koffer zu verbergen. Der alte Arzt war früher mit verbrecherischen Kreisen verbandelt und verliert in solch delikaten Situationen nicht so schnell den Kopf. Noel gibt Scuddamore einen Brief mit einer Adresse in London, wo man sich des Kofferinhaltes annehmen werde.

"Der Selbstmörderclub"

Zudem stellt er Scuddamore mitsamt seinem brisanten Gepäck unter den Schutz der Reisegesellschaft des Prinzen Florizel von Böhmen, die auch nach England fahren will.

(Bild rechts: Peter H/Pixabay)

Es dauert nicht lang und Prinz Florizel entdeckt den schaurigen Inhalt des Saratoga-Koffers: die Leiche ist der jüngere Bruder von Oberst Geraldine, des treuen Freundes von Prinz Florizel, getötet durch die Hand des Präsidenten des Selbstmörderclubs.

Wir ahnen es: trotz großen Kummers wird Florizel das Leben des jungen Scuddamore, der schuldlos über Zéphryne in die Intrige verstrickt wurde, in sichere Bahnen lenken und dessen Hochachtung gewinnen.

Der arabische Erzähler meldet sich wieder mit einigen Zeilen zu Wort und weist auf die Fortsetzung hin:

„Das Abenteuer mit den Droschken“

Leutnant Brackenbury Rich und Major O’Rooke, beide verdiente Offiziere und Kriegsveteranen, der eine jung, der andere älter, werden – wie einige andere Militärangehörige – in einen geheimnisvollen Club gelockt.

Dort empfängt sie ein gewisser Mr. Morris, der die Anwesenden um Hilfe in einer gefährlichen Mission bittet. Rich und O’Rooke erklären sich als einzige dazu bereit. Ihre Aufgabe: sie sollen bei einem Duell auf Leben und Tod sekundieren.

Der geheimnisvolle Mr. Morris ist natürlich Oberst Geraldine und Prinz Florizel einer der Duellanten. Ihm gegenüberstehen wird der Präsident des Selbstmörderclubs, der so viele Menschenleben auf dem Gewissen und auch Geraldines jüngeren Bruder getötet hat. Dem Treiben dieses gefährlichen Mannes soll ein Ende bereitet werden. Dr. Noel aus Paris ist bei dem tödlichen Treffen anwesend, er kennt sowohl Geraldine und Florizel als auch den Präsidenten…

Am Ende geht Florizel siegreich aus der Partie hervor, doch der Triumph schmeckt ihm schal:

„Das Leben eines Menschen ist ein so geringes Ding, um es zu nehmen, ein so mächtiges Ding, es richtig zu verwenden.“

Seite 96, „Das Abenteuer mit den Droschken“, aus Robert Louis Stevenson, „Der Selbstmörderclub und andere Erzählungen“, 304 Seiten, Neubearbeitung nach verschiedenen deutschen Erstausgaben, Herausgeber R.W. Pinson, erschienen 1977 im Moewig Verlag München.

Ähnlich aufgebaut ist der Zyklus „Der Diamant des Radjahs“, auch hier durchzieht ein Grundthema die Geschichten wie ein roter Faden. Diesmal ist es ein wertvoller Diamant und sind es insgesamt vier Erzählungen, die sich um ihn drehen. Und Stevenson gelingt sogar noch die Verknüpfung mit dem ersten Zyklus, will heißen: wir werden Prinz Florizel wieder begegnen.

Denn wie sagt der arabische Freund Stevensons am Endes der dritten Geschichte aus „Der Selbstmörderclub“: mit all den Abenteuern des Prinzen von Böhmen könnte man den bewohnten Erdball mit Büchern füllen.

Doch das ist ein Thema für die nächste Woche auf Meine Leselampe

„Der Selbstmörderclub“ – mein Fazit

Was steckt hinter den Erzählungen des Robert Louis Stevenson? Mal wirken sie auf mich wie eine humorvolle Darstellung des griechischen ‚deus ex machina‘ (siehe Quellen und Weblinks) – statt der Theatermaschinerie erscheint Prinz Florizel von Böhmen überall dort, wo Hilfe vonnöten ist.

Aber nein, Florizel ist bei aller Güte, Bedachtsamkeit und Überlegenheit doch zu menschlich, er gibt Versuchungen nach wie beim Kartenspiel im Selbstmörderclub oder fällt Fehlurteile wie dem jungen Geraldine die Bestrafung des Präsidenten des Selbstmörderclubs zu überlassen. Kein Gott, keine Maschine.

Bezieht sich Stevenson mit seiner Figur Florizel auf den gleichnamigen Prinzen von Böhmen in Shakespeares „Ein Wintermärchen“ (siehe Quellen und Weblinks)?

Und was bedeutet am Ende jeder Geschichte der Verweis auf einen arabischen Autor, ich habe in den Texten selbst nichts orientalisch anmutendes gefunden.

Oder sind die Erzählungen einfach Studien des menschlichen Charakters und ein Spiegel der damaligen Gesellschaft? Ja, ein Stück weit. Sie beinhalten die Macht der Versuchung, den verhängnisvollen Sog der Gier und das alte Lied von „Das Gute siegt über das Böse“.

Und ebenso erinnern sie ein wenig an Detektivgeschichten und ein wenig an „Seemannsgarn“.

Vielleicht sollten wir auch gar nicht versuchen, einen tieferen Sinn zu konstruieren, weil Robert Louis Stevenson seine Geschichten aus reiner Lust am Fabulieren geschrieben hat – so spannend, phantasievoll und amüsant wie sie sind.

„Der Selbstmörderclub“ – mein Lese-Exemplar

Robert Louis Stevenson, „Der Selbstmörderclub und andere Erzählungen“, 304 Seiten, Neubearbeitung nach verschiedenen deutschen Erstausgaben, Herausgeber R.W. Pinson, erschienen 1977 im Moewig Verlag München.

„Der Selbstmörderclub“ – Quellen und Weblinks

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