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„Die Namenlosen“ – eine Einführung
„Die Namenlosen“ (OT: „No Name“) – heute endlich kann ich Euch den Roman von Wilkie Collins (1824-1889) aus dem Jahre 1862 vorstellen. Bevor der Roman als Buch veröffentlicht wurde, erschien er in Fortsetzungen in der Zeitschrift „All The Year Round“, herausgegeben von Collins‘ Freund Charles Dickens.
Vorab hatte ich mit dem Übersetzer und Herausgeber des Romans gesprochen, Dr. Sebastian Vogel -> https://www.meineleselampe.de/dr-sebastian-vogel/.
Dr. Vogel hat mir vorab freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zugeschickt.
„Die Namenlosen“ – zur Handlung
„Die Namenlosen“ beginnen idyllisch, der auktoriale Erzähler, Wilkie Collins, versetzt uns in die Halle des Anwesens Combe-Raven in Somersetshire. Mit ihm erwarten wir am frühen Morgen die Auftritte der Dienstboten und der Familienmitglieder, die – gemäß ihrer Pflichten und/oder dem Zeitpunkt ihres Aufstehens – nach und nach die Treppe hinuntersteigen werden.
Es der 4. März 1846 und 6:30 Uhr. Ach ja, neben uns liegt ein schnarchender Hund (hier auf dem Bild nicht zu sehen, wie wir ja auch nicht), das macht es gemütlich.
(Bild rechts: brands amon/Pixabay
Zunächst kommen die fleißigen Hausgeister die Treppe herab: die rheumatische Köchin, das rotnasige Hausmädchen, das dickliche Dienstmädchen der Lady, das schmerzgeplagte Küchenmädchen und last but not least Hausdiener Thomas, müde vom langen Aufbleiben in der vergangenen Nacht….
Dann endlich treten die HauptdarstellerInnen auf. Als erster ist Mr. Andrew Vanstone auf den Beinen, Hausherr und liebender Familienvater, ein typischer Vertreter der Gentry, um die fünfzig, groß, kräftig, fröhlich, mit frischem Teint, gefolgt von seinem Scotchterrier.
Wenig später schreitet die Gouvernante, Miss Harriet Garth, die Treppe hinab, eine würdige Frau in den Vierzigern, herb und korrekt wirkend. Ein bisschen müssen wir uns noch gedulden, dann können wir einen Blick auf Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter Norah werfen.
Mrs. Vanstone hat ihre einstige Frische und Schönheit durch Kindesverluste und Krankheiten eingebüßt, ihre feinen und ebenmäßigen Gesichtszüge bewahren jedoch die Erinnerung daran. Norah ähnelt ihrer Mutter, dunkelhaarig, mit roten Wangen. Sie ist jetzt 26 Jahre (ein spätes Mädchen nach viktorianischen Maßstäben), ruhig und zurückhaltend.
Zum guten Schluss führt Collins Magdalen ein, mit ihren 18 Jahren die jüngste Vanstone-Tochter, laut, lebhaft und fröhlich, vermutlich noch ein wenig in der Pubertät befindlich. Mit ihren hellbraunen Haaren, dem hellem Teint und violetten Augen ist auch Magdalen eine faszinierende Schönheit, ähnelt aber weder ihrer Mutter noch ihrer Schwester.
Jetzt haben wir alle beisammen, die wir für „der Tragödie erster Teil“ brauchen. Wie Collins es in seinem Vorwort zu „Die Namenlosen“ schreibt, lüftet er bewusst im ersten Akt das dunkle Geheimnis, das über der Familie schwebt.
Die unbeschwerten Tage auf Combe-Raven neigen sich dem Ende zu….
(Bild links: MITCH WRIGHT/Pixabay)
Das Drama beginnt an diesem Märzmorgen mit einem Brief aus den USA an Mr. Vanstone, der eine eilige Reise des Ehepaars nach London nach sich zieht. Miss Garth und den Töchtern verraten Mr. und Mrs. Vanstone nichts über Sinn und Zweck ihres Vorhabens, erst später offenbart Mrs. Vanstone, dass sie guter Hoffnung sei und man in London einen Arzt konsultiert habe. In ihrem Alter und nach einigen Krankheiten sei eine Geburt nicht ungefährlich für sie, das bedrückt Mrs. Vanstone ein wenig.
Magdalen wird von Nachbarn gebeten, an einem privaten Theateraufführung mitzuwirken. Auch Francis (Frank) Clare, ein gutaussehender Taugenichts und Sohn eines Freundes von Mr. Vanstone, spielt mit, die beiden jungen Leute verlieben sich ineinander. Magdalen entpuppt sich als talentierte Schauspielerin und erregt die Aufmerksamkeit eines Theaterdirektors, der die Proben geleitet hat. Er gibt ihr seine Karte, die Magdalen sorgsam aufhebt. Oh, sie könnte sich schon vorstellen, Schauspielerin zu sein!!
Doch nun visiert sie erst einmal ihr dringendstes Ziel an, die Erlaubnis ihrer Eltern für eine Heirat mit Frank zu erwirken. Norah und Miss Garth sind entsetzt, denn Frank hat sich bei seiner Ausbildung zum Ingenieur als völlig untauglich erwiesen, auch eine zweite Chance im Handel nutzte er nicht. Nun will die Firma ihn für fünf Jahre nach China schicken, damit er dort „in die Spur kommt“. Eine Heirat mit Magdalen würde Frank dank ihres zu erwartenden Vermögens den Auslandsaufenthalt ersparen….
Magdalens Eltern und der alte Clare (der Senior hält gar nicht von seinem Filius, warnt aber vergeblich) stimmen der Hochzeit zu – unter einigen Bedingungen. Magdalen ist überglücklich, doch soll der Himmel für sie nicht lang „voller Geigen hängen“: bei einem Zugunglück stirbt kurz darauf ihr Vater, durch den Schock erkrankt ihre Mutter und stirbt im Kindbett. Auch das Neugeborene überlebt nur wenige Stunden.
Man sollte meinen, diese Schicksalsschläge seien für Norah und Magdalen mehr als genug, nein – es kommt noch schlimmer. Mr. Pendril, der Anwalt der Familie, eröffnet ihnen, dass ihre Eltern erst vor wenigen Monaten in London geheiratet hätten und beide Mädchen somit illegtim seien. Sprich: weder das Erbe noch der Familienname Vanstone stünden ihnen zu.
In seiner Jugend war Mr. Andrew Vanstone nach einem Streit zwischen seinem Vater und seinem älteren Bruder in die Armee eingetreten. Als er mit seinem Regiment nach Kanada versetzt wurde, verliebte er sich dort in eine Frau, die sich als recht liederlich entpuppte. Das war jedoch gesetzlich kein Grund, sich scheiden zu lassen. Einer von Vanstones vorgesetzten Offizieren, ein Major Kirke, half dem jungen Mann in seiner Not. Der Frau wurde ein monatliches Legat ausgesetzt und das Versprechen abgenommen, sich niemals in England blicken zu lassen.
Daher konnte Andrew Vanstone, als er sich später in die jetzige Mrs. Vanstone verliebte, diese nicht heiraten. Tapfer lebten die beiden vor der Welt als Ehepaar, sie hatten Glück, dass der Schwindel nicht aufflog. Erst als einige Monate vor den tragischen Ereignissen auf Combe-Raven der Brief aus den USA ankam und die Nachricht enthielt, dass die unwürdige Gattin gestorben sei, konnte Andrew sich in London heimlich mit seiner großen Liebe und Mutter seiner Töchter rechtmäßig trauen lassen.
Wegen seines plötzlichen Todes hatte Andrew Vanstone keine entsprechenden Verfügungen mehr in seinem Testament treffen können und so entgeht seinen Töchtern das ihnen eigentlich zugedachte Erbe von 80.000 Pfund. So will es das Gesetz der Zeit.
Nutznießer ist nun der ältere Bruder Andrews, Michael Vanstone, und der weigert sich, seine Nichten anzuerkennen oder ihnen wenigstens einen Teil ihres Erbes zu überlassen, zu groß ist sein Hass nach dem Familienstreit von damals.
Mrs. Garth, dankbar für all die guten Jahre und erwiesene Freundschaft im Hause Vanstone, nimmt beide Schützlinge mit nach London.
Sie will mit ihnen in der Schule leben, die sie vor Jahren gemeinsam mit ihrer Schwester gegründet hatte und Anstellungen für die Mädchen finden. Norah schlägt – wie es sich für eine mittellose Dame der viktorianischen Epoche gehört – die Laufbahn einer Gouvernante ein.
(Bild rechts: Wortflow/Pixabay)
Magdalen nimmt heimlich Reißaus – sie will zur Bühne und als Schauspielerin ihr Geld verdienen und sie will um jeden Preis von Michael Vanstone und seinem Sohn Noah das Erbe ihres Vaters zurückerhalten. Immer tiefer verstrickt sie sich, befeuert von ihrem jugendlichen Überschwang und ihrer Unerfahrenheit, in Intrigen und Betrügereien, immer geringer wird ihre Selbstachtung…
Bei „Die Namenlosen“ steige ich sehr früh aus meiner „Nacherzählung“ aus, denn der Verlauf der Handlung nimmt viele Wendungen und unerwartete Entwicklungen, dass ich Euch die Spannung zerstören würde, schriebe ich mehr darüber.
Ich möchte Euch nur noch dies verraten: freut Euch auf den mit allen Wassern gewaschenen Spitzbuben Captain Wragge (selbst ernannter ‚moralischer Landwirt‘), seine riesengroße Frau Matilda mit dem Gehirn eines Kleinkindes, den quengeligen und geizigen Noah Vanstone, seine resolute und hinterhältige Haushälterin Mrs. Lecount – nur einige der Charaktere, die Wilkie Collins wunderbar ersonnen und beschrieben hat.
„Die Namenlosen“ – mein Fazit
Wie anschaulich ! eröffnet Wilkie Collins seinen Roman – ich fühlte mich in ein Theaterstück versetzt.
Collins hat seine acht Kapitel in „Die Namenlosen“ denn auch jeweils mit ‚Szene‘ überschrieben. Diese trennt er durch Zwischenakte, in denen Briefe zwischen den verschiedenen Darstellern hin und her gehen, die die Handlung vorantreiben, neue Schauplätze einführen und Hintergründe und/oder Motivationen erklären.
(Bild links: Darkmoon Art/Pixabay)
Wie gekonnt ! schildert Collins die Gewissensqualen Magdalens, als ihre bösen Veranlagungen immer mehr Oberhand gewinnen und wie sie sich gegen den Weg und die Mittel des Betrugs innerlich immer wieder auflehnt. Und Collins selbst stellt (durch Miss Garth) die Frage:
„Gibt es in uns allen, unendlich schwankend in jedem Einzelnen, angeborene Kräfte des Guten und Bösen, die tief unterhalb der Reichweite sterblicher Ermutigung und sterblicher Unterdrückung liegen – verborgenes Gutes und verborgenes Böses, beide gleichermaßen abhängig von der befreienden Gelegenheit und der ausreichenden Versuchung?“
Seite 146, Wilkie Collins, „Die Namenlosen“, Roman, 756 Seiten, neu übersetzt und 2017 herausgegeben von Dr. Sebastian Vogel, Druck epubli, Berlin.
Wie ausgeklügelt und spannend ! baut Wilkie Collins seinen Plot auf, auf jeden Zug folgt ein Gegenzug, Captain Wragge und Magdalen auf der einen Seite und Mrs. Lecount auf der anderen Seite liefern sich ein fesselndes Wettrennen der Intrigen, eine Art grandioses Schachspiel der Betrüger.
Wie überraschend ! gestaltet Collins die Wendung zum Ende, als Norah und Magdalen… oh nein, das wird nicht verraten, das müsst Ihr Euch selbst er-lesen!!
Wie gern ! ich „Die Namenlosen“ gelesen habe und wie sehr ich Euch den Roman ans Herz lege, mit diesem letzten Ausruf beschließe ich meine Ausführungen und mein Fazit.
„Die Namenlosen“ – mein Lese-Exemplar
Wilkie Collins, „Die Namenlosen“, Roman, 756 Seiten, neu übersetzt und 2017 herausgegeben von Dr. Sebastian Vogel, Druck epubli, Berlin, erschienen in der Reihe: „Vergessene Schätze der englischen Literatur“.
„Die Namenlosen“ – Quellen und Weblinks
- Wilkie Collins und sein Leben -> https://victorianweb.org/authors/collins/bio.html oder auch unter -> http://victorian-era.org/wilkie-collins-writer-in-victorian-period.html
- Wilkie Collins‘ Werke sowie weiterführende Literatur über ihn -> https://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199799558/obo-9780199799558-0017.xml
- weitere Collins-Besprechungen auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/die-dame-und-das-gesetz/, https://www.meineleselampe.de/der-monddiamant/, https://www.meineleselampe.de/buchtitel/die-frau-in-weiss/
- weitere Zitate aus „Die Namenlosen“ auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-25/ sowie auf https://www.facebook.com/christiane.wilms.12/