„Die Pallisers“ – zur Einstimmung

Nun endlich stelle ich nach der „Meine-Leselampe-Trollope-Retrospektive“ [1] einen „neuen“ Roman des viktorianischen Autors und Postbeamten vor.

„Die Pallisers“, OT: „The Pallisers“, ist eigentlich die Überschrift einer ursprünglich sechsbändigen Romanreihe, die Anthony Trollope in dem Zeitraum 1864 bis 1879 schrieb. Trollopianer werden einige Personen oder Orte wiedererkennen – sie spielten schon in dem ebenfalls sechsteiligen Zyklus „The Barchester Chronicles“ (1855 bis 1867) ihre Rolle.

Hier sind die Titel der einzelnen Palliser-Romane – für alle, die nach ihnen in den Antiquariaten auf die Jagd gehen wollen: „Can you forgive her?“ (1864), „Phineas Finn“ (1869), „The Eustace Diamonds“ (1873), „Phineas Redux“ (1874), „The Prime Minister“ (1876) und „The Duke’s Children“ (1879).

Die Pallisers/Erntedank und Meine Leselampe-Vorschau 22/KW 40

Und es gibt auch Komplett-Ausgaben, ich habe eine des Verlages Knaur aus dem Jahre 1979, in der die sechs Romane in 31 Kapitel unterteilt wurden und die Titel der Einzelbände gänzlich wegfallen.

„Die Pallisers“ – zum Inhalt

Ich würde „Die Pallisers“ nicht als Familiensaga im engeren Sinne bezeichnen. Die Familie könnte man eher als eine Art Bühnenbild bezeichnen, ein Hintergrund, vor dem agiert wird. Natürlich lesen wir über Plantagenet Palliser, den Erben des Herzogs von Omnium: wie er sich einbildet, in eine verheiratete Frau verliebt zu sein; wie er eine Vernunftehe mit Lady Glencora M’Cluskie eingeht, die sich zu einer beiderseitig liebevollen Beziehung entwickelt und wie ihre Kinder ins Leben starten.

Doch Anthony Trollope schildert ebenso die Schicksale von Verwandten, Freunden und politischen Weggefährten von Plantagenet und Glencora Palliser. Da ist der junge irische Anwalt Phineas Finn, der so gern politische Karriere machen möchte, dem aber die notwendigen Beziehungen fehlen. Hier haben wir Alice Vavasor, deren Gefühle zwischen dem ehrenhaften John Grey und ihrem nicht ganz so ehrenhaften Cousin George Vavasor schwanken.

Wir lernen die reiche, verwitwete Madam Max Goesler kennen (eine patente Frau, auch wenn die Engländer sie zunächst insgeheim als „bloody foreigner“ einstufen). In sie verliebt sich der alte Herzog von Omnium – eine Heirat der beiden würde das Erbe seines Neffen Plantagenet gefährden! Und Lady Laura, die sich von ihrem religiös besessenen, brutalen Ehemann trennt und von da an im Exil leben muss. Nicht zu vergessen die junge, etwas zu gierige Lizzie Eustace, die sich in eine „Halsbandaffäre“ verstrickt. Und und und…

Ich möchte gar nicht mehr verraten, als dass Trollope „Die Pallisers“ als ein spannendes Beziehungsgeflecht konstruiert hat, in dessen mannigfache Verästelungen er politische und soziale Fragen seiner Zeit eingearbeitet hat.

Nehmen wir das Problem der „rotten boroughs“ (der „verrotteten Bezirke“), das die Menschen in der viktorianischen Epoche Jahrzehnte umtrieb und das auch einige von Trollopes Akteuren tangiert. „Rotten boroughs“ [2] waren kleine Wahlbezirke, die zu dem Land eines adeligen Großgrundbesitzers gehörten und die er nach Lust und Laune an einen Unterhaus-Kandidaten vergeben konnte. Die „Untertanen“ mussten sowieso denjenigen wählen, der ihrem Herrn und Meister gefiel.

„Immer noch war das Haus der Lords die erbliche Burg des Adels. Aber auch die Majorität der Unterhausmitglieder war von einer Anzahl adeliger Herren abhängig, die „wahllos“ über die Unterhaussitze der sogenannten „heruntergekommenen Wahlflecken“ verfügen konnten. […] Je mehr die soziale Schichtung der englischen Bevölkerung und vor allem der besitzenden Klassen sich verschob, desto weniger ging die englische Nation in der Verfassung auf. So wurde eine Reform des Unterhauses immer stürmischer gefordert.“

Seite 161 aus: Trollope, Anthony, „Die Pallisers“, Roman, Droemer Knaur, München/Zürich 1979.

"Die Pallisers"

Ja, es lässt sich getrost sagen: die Politik ist der Kitt, der Trollopes Figuren verbindet.

(Bild rechts: Dan Johnston/Pixabay)

Diesem Bindemittel hat Trollope ein weiteres Element hinzugefügt: die Liebe, die er unter den Aspekten Herzensangelegenheit/ Standesbewusstsein betrachtet. Über die Rolle der Frau in der viktorianischen Gesellschaft kommen von ihm einerseits die damals üblichen, altertümlich anmutenden Ansichten wie „Frauen verwöhnen lieber als dass sie sich verwöhnen lassen“.

"Die Pallisers"

Andererseits gibt Trollope zu, dass die Ehe für Frauen einen wesentlich größeren Einschnitt bedeutet als für Männer und sie sich in dieser Institution weniger entfalten können.

(Bild links: Gordon Johnson/Pixabay)

Doch nicht alle verheirateten Frauen waren machtlos, denn Trollope wirft die Frage auf: wieviel Einfluss können Ehefrauen wie eine Lady Glencora auf die politische Laufbahn ihres Mannes nehmen? (Wenn es dumm läuft, einen verheerenden…)

Neben der Welt des Adels und des gehobenen Bürgertums kommen auch Justiz, Gefängnisse oder Armenhäuser in „Die Pallisers“ ebenso vor wie das Garrottieren [3], das in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts die Londoner in Angst und Schrecken versetzte:

„Damals war das Garrottieren in England sehr beliebt. Es war eine einfache Form der Beraubung, die sich auch ohne besondere kriminelle Vorbildung leicht ausführen ließ. Man brauchte nur ein vielversprechendes Opfer zu finden, dass man dann durch eine übergeworfene Schlinge bewußtlos machen und in aller Ruhe ausplündern konnte.“

Seite 163 aus: Trollope, Anthony, „Die Pallisers“, Roman, Droemer Knaur, München/Zürich 1979.

Herrlich, dieser heiter-ironische Erzählton, der „Die Pallisers“ durchzieht, mir gefiel besonders die Formulierung: „Die Damen von Welt taten es – und die Damen ohne Welt folgten ihrem Beispiel“ (Seite 357). Damit es hier zu keinem Missverständnis kommt: es geht lediglich ums Tratschen!

„Die Pallisers“ – mein Fazit

Ein gelungener und vielschichtiger Roman über die viktorianische Gesellschaft, ihre Moral und Unmoral, ihre Sitten und Unsitten – es menschelt beim Adel, bei den Bürgerlichen, bei den Armn gleichermaßen. Dabei wahrt Trollope stets eine ironische Distanz zu seinen Figuren – bleibt er vorsichtshalber auf Abstand, weil er sie alle zu gut kennt?!

Ich kann jeder und jedem empfehlen, „Die Pallisers“ mehrfach zu lesen, denn der Roman ist eine Fundgrube für Ereignisse der viktorianischen Ära. Zudem könnte es sein, dass man bei diesem Großaufgebot an Akteuren und Schicksalswegen schon mal Details überliest oder vergisst.

Ein Aber habe ich: beim Lesen stieß mir der bei Trollope durchschimmernde Rassismus sauer auf, der im 19. Jahrhundert leider weit verbreitet war. So muss ein aus Polen stammender Jude in „Die Pallisers“ den Bigamisten und Mörder geben. Von einem solchen Menschenbild und solcher Diffamierung distanziere ich mich nachdrücklich. Es ist jedoch auch ein Zeitzeugnis, das man nicht wegdiskutieren kann. Glücklicherweise haben viele daraus gelernt und sind heute klüger – die es nicht sind, sollten es dringend werden.

„Die Pallisers“ – mein Lese-Exemplar

Trollope, Anthony, „Die Pallisers“, Roman, 478 Seiten, übersetzt von Carl Brinitzer, erschienen bei Droemer Knaur, München/Zürich, 1979. Es gibt auch eine gebrauchte Ausgabe von 1977:

Die BBC hat „Die Pallisers“ 1974 fürs Fernsehen adaptiert, wie es so schön heißt. Die Serie gibt es auf DVD, ebenfalls gebraucht:

„Die Pallisers“ – Quellen und Weblinks

[1] die bisherigen „Trollops“ auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/miss-mackenzies/ und https://www.meineleselampe.de/die-claverings/

[2] über die „rotten oder pocket boroughs“ -> https://www.britannica.com/topic/rotten-borough

[3] über das Garrottieren -> https://en.wikipedia.org/wiki/London_garrotting_panics

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