Pickwickier sein – das bedeutet, die Welt gutgläubig und wohlmeinend zu betrachten und sich in jeder Lebenslage exzentrisch zu verhalten. Dann tappt man mit großer Sicherheit in die Fallen und verheddert sich in den Schlingen, die das Leben und dubiose Gentlemen wie Alfred Jingle bereithalten.
So erging es „dem trefflichen Gelehrten“ Mr. Samuel Pickwick und seinen drei aufrechten Trabanten, als sie sich aufmachten, die britische Insel zu erforschen. Zu dem Zeitpunkt hatte Mr. Pickwick sich mit Theorien über den Froschsprung sowie der Fischteiche von Hampstead und selbstverständlich als Gründer und Präsident des „Pickwick-Klubs“ bereits einen Namen gemacht.
Inhalt
„Die Pickwickier“ – Einführung
Derlei skurrile Gestalten können nur aus der Feder eines viktorianischen Autors stammen: Mr. Charles Dickens. Eigentlich sollte er nur einige Begleit-Texte zu einer Reihe von Sportillustrationen Robert Seymours (siehe 1, Quellen und Weblinks) liefern, aber der Selbstmord Seymours im April 1836 änderte alles (fühlte der ohnehin von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Seymour sich von Dickens ausmanövriert?).
„Mr. Pickwick in Chase of his Hat“ by Robert Seymour, 1836.
(Quelle: wikimedia, gemeinfrei, auch in den USA)
Von da an stand Dickens‘ Text im Vordergrund und die Zeichnungen, jetzt von Hablot Knight Browne (‚Phiz‘), umrahmten die Handlung (siehe 2, Quellen und Weblinks).
„Die Pickwickier“, Originaltitel: „The Posthumous Papers of the Pickwick Club (Containing a Faithful Record of the Perambulations, Perils, Travels, Adventures and Sporting Transactions of the Corresponding Members)“ erschien von April 1836 (eigentlich ab 31. März, um genau zu sein) bis November 1837 in Fortsetzungen unter dem Pseudonym „Boz“.
Es ist der erste Roman des erst 24-Jährigen Charles Dickens, bisher hatte er nur „Sketches by Boz“ herausgebracht.
„Die Pickwickier“ – Wissenswertes
Der Name für „Die Pickwickier“ soll vom Unternehmer Moses Pickwick herrühren (s. 3, Quellen und Weblinks), der in Bath mit Erfolg Kutschenlinien betrieb, bis die Konkurrenz durch die Eisenbahn ab 1830 zu mächtig wurde. Auf seiner Reise nach Bath besteigt Mr. Pickwick eine Kutsche, auf die in goldenen Lettern der Name „Moses Pickwick“ gemalt ist, was Sam Weller sehr irritiert (Seite 558-559).
Der Episoden- und der Schelmenroman hatten in England schon vor Charles Dickens Tradition – Dickens steht in der Nachfolge von Tobias Smollett („Die Abenteuer des Peregrine Pickle“) oder Autoren wie Daniel Defoe, Henry Fielding, etc. (Hans-Dieter Gelfert, „Charles Dickens – der Unnachahmliche“, Biographie, 2011, Verlag C.H.Beck, München, s. 4, Quellen und Weblinks).
Doch Dickens baut in seine Schelmengeschichte auch tragische und sozialkritische Elemente ein (Alkoholismus, Elend und Armut, Angst vor Wahnsinn, die dubiose Rolle der Justiz, das Grauen im Schuldgefängnis).
Zudem vermittelt er ein – wenn auch überwiegend skurriles – Abbild seiner Zeit (z.B. mit der Schilderung der Wahlen in Eatanswill, dem unwürdigen Benehmen und der Verlogenheit klerikaler Temperenzler, der Gier und den Tricks der Anwälte). Gekonnt legte Dickens mit „Die Pickwickier“ das Fundament zu „Dickensian“ (s. 5, Quellen und Weblinks).
Wunderbare Wortschöpfungen durchziehen den Roman, wie „Graf Smorltork“ = „Smalltalk“, vermutlich eine Persiflage auf den Fürsten Pückler (s. 6, Quellen und Weblinks), „moralische Taschentücher“, „Ungeseifte“, „konfiszierte Physiognomie“, köstlich!!!
Ebenso köstlich sind die schnodderigen Sprüche des Dieners Sam Weller, die als „Wellerismen“ zum Oberbegriff für „Sagworte“ geworden sind.
Überhaupt dienen noch heute die Begriffe „Pickwick“ oder „Pickwickier“ als Namensgeber in Medizin und Botanik oder als werbewirksame Produktbezeichnungen (s. 7, Quellen und Weblinks).
Und noch eine Kleinigkeit: dank der Figur des Sam Weller konnte Dickens seine Auflage beträchtlich steigern. Weller ist damals wie heute populärer als die eigentliche Hauptfigur – sorry, Mr. Pickwick.
„Die Pickwickier“ – zum Inhalt
Die Geschichte verdanken wir einem Protokollanten des berühmten Pickwick-Klubs, Dickens setzt ihn als Erzähler ein. Der uns nicht näher Vorgestellte berichtet von den Fahrten des Mr. Samuel Pickwick und seiner drei Begleiter, die ihre Erlebnisse dem Klub brieflich von unterwegs mitteilen sollen. Das beschließen die Mitglieder auf einer turbulenten Sitzung ihres Klubs gleich zu Beginn des Romans.
Ein wunderliches Quartett macht sich auf den Weg, angeführt vom gelehrten Mr. Pickwick, rundlich, die Glatze von einem Haarkranz umrundet, seines Zeichens Wissenschaftler, Philosoph, Philanthrop und Freund erhabener Reden:
„Pickwick in seiner Beredsamkeit, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, die andere in der Luft schwenkend, um seinen Vortrag noch lebendiger zu gestalten. Eng anschließende, unaussprechliche und hohe Gamaschen, die (…), da sie einen Pickwick bekleiden, (…) eine unwillkürliche Achtung und Ehrfurcht einflößen, umschließen das Bein.“
Seite 9 aus Charles Dickens, „Die Pickwickier“, Roman, 849 (ohne Anhänge), übersetzt von Gustav von Meyrink, erschienen 2012 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
(Bild rechts: Open Clipart-Vectors/Pixabay)
Mit diesem feurigen Redner begeben sich der ebenfalls rundliche und in die Jahre gekommene Liebhaber schöner Frauen, Tracy Tupmann sowie zwei jüngere Begleiter, der verkannte Dichterfürst Augustus Snodgraß und der selbsternannte Sportsmann Nathaniel Winkle auf die als äußerst gefährlich eingeschätzte Reise durch die englischen Gefilde. Erstes Ziel ist Rochester.
Die Herren geraten dort prompt mit einem Kutscher in ein Handgemenge, da dieser Mr. Pickwicks interessierte Fragen und emsige Notiererei in den falschen Hals bekommen hat. Der Ganove Alfred Jingle – Markenzeichen: abgehackte Spreche – hilft ihnen aus ihrer misslichen Lage und drängt sich ihnen geschickt auf:
„Da, Nummer neunhundertvierundzwanzig, nimm dein Geld und pack dich – respektabler Gentleman – kenne ihn gut – dummes Zeug – hierher, Sir! – Wo sind Ihre Freunde? – Missverständnis, wie ich sehe – macht nichts – kommt zuweilen vor – besten Familien – geht nicht ans Leben – verdammte Schurken.“
Seite 17 aus Charles Dickens, „Die Pickwickier“, Roman, 849 (ohne Anhänge), übersetzt von Gustav von Meyrink, erschienen 2012 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
Immer wieder wird Jingle ihren Weg kreuzen und sie täuschen und betrügen. Gleich am ersten Abend ihrer Bekanntschaft schafft der Halunke es fast, den völlig ahnungslosen Mr. Winkle in ein Duell zu verwickeln, weil er in dessen Abendanzug auf einem Ball einem Militärarzt die Dame ausspannt.
Später, nachdem die Pickwickier ihn nichts Böses ahnend bei ihren Freunden und Gastgebern, den Wardles in Dingly Dell, eingeführt haben, nutzt Jingle erneut die Gelegenheit. Er becirct und entführt die ältliche Schwester des gutmütigen Mr. Wardle in der Hoffnung auf eine reiche Mitgift und zerstört damit die Hoffnungen Tupmans auf ein spätes Eheglück.
Als der ebenso betrügerische Hiob Trotter sich zu Jingle gesellt, ist das „Duo Infernale“ perfekt. Selbst der treffliche Gelehrte Mr. Pickwick fällt ihnen zum Opfer – sie locken ihn als Tugendretter in ein Mädchenpensionat und in eine hochnotpeinliche Lage.
(Bild links: Chempec/Pixabay)
Aber es ist keineswegs ein Alfred Jingle nötig, um die Pickwickier in prekäre Situationen zu bringen, das können sie selbst!!
Besonders Mr. Winkle tut sich da hervor: so enttarnt er seinen Ruf als passionierter Jäger, als er seinem Freund Tupman in die Schulter schießt statt eine Krähe zu treffen. Beim Reiten und Schlittschuhlaufen macht er eine recht klägliche Figur – fort und dahin ist das von ihm entworfene Bild des famosen Sportlers. Als Liebhaber gibt Winkle auch nichts her, seine Tändelei beim Wahlkampf in Eatanswill mit der Frau des Verlegers Pott wird vom Konkurrenzblatt aufgedeckt und in Form eines blamablen Spottgedichtes publik gemacht.
Der Umgang mit dem schönen Geschlecht bringt auch den arglosen Mr. Pickwick mehrmals in die Zwickmühle. In Ipswich verirrt er sich in einem Gasthof nachts in das Zimmer einer unverheirateten Dame, die ihn anzeigt, um ihren guten Ruf zu wahren und ihren Bräutigam nicht zu verlieren, der im gleichen Gasthof weilt.
Und als Pickwick seiner Vermieterin, der verwitweten Mrs. Bardell, mitteilt, einen Diener anstellen zu wollen, wählt er seine Worte so unglücklich, dass die Dame daraus einen Heiratsantrag konstruiert und Pickwick später wegen Bruchs des Eheversprechens anklagt.
Es kommt zum Prozess und Mr. Pickwick wird verurteilt, eine Entschädigung an die getäuschte und darob völlig zerrüttete Witwe zu zahlen. Aus Trotz gegenüber den habgierigen gegnerischen Anwälten Dodson & Fogg weigert sich Mr. Pickwick, die Entschädigung zu entrichten und wandert für einige Monate ins Fleet-Gefängnis.
Einen loyalen und treuen Begleiter hat Mr. Pickwick in seinem pfiffigen und um keinen Spruch verlegenen Diener Sam Weller gefunden, der ihm und seinen Begleitern in manch peinlicher Situation beisteht. Er lässt sich sogar aus Treue zu seinem Herrn ins Fleet-Gefängnis einsperren – mit Hilfe einer List und der Unterstützung seines Vaters.
Wie soll das enden? Ich verrate nur, dass die Gutherzigkeit und die Großzügigkeit Mr. Pickwicks sowie seine Gabe, zu verzeihen, einige Bösewichter auf den rechten Weg bringen und einige glückliche Eheschließungen befördern wird.
Es fällt schwer, von den Pickwickiern Abschied zu nehmen, der Protokollant (oder ist es zum Schluss doch der Autor, der da spricht?) drückt es trefflich aus:
„Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt herumtreiben und es zu einem gewissen Alter bringen, dass sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, dass sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren.“
Seite 847 aus Charles Dickens, „Die Pickwickier“, Roman, 849 (ohne Anhänge), übersetzt von Gustav von Meyrink, erschienen 2012 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
Und es ist das Los von uns LeserInnen, am Ende eines jeden Romans Abschied zu nehmen von den liebgewonnenen Charakteren, die uns für die Dauer von einigen Stunden oder Tagen begleitet und die Zeit vertrieben haben.
„Die Pickwickier“ – mein Fazit
Warmherzig, amüsant, absurd, doch nicht ohne tragische oder gesellschaftskritische Einflechtungen: der Roman-Erstling des jungen Charles Dickens weist schon in vielen Punkten auf seine späteren Werke hin, die ungleich düsterer ausfallen.
In den „Pickwickiern“ überwiegt noch die Komik, erzeugt durch die liebenswerte Naivität und Menschlichkeit der Figuren. In den nächsten Jahren werden bei Charles Dickens tragische Schicksale, die Schilderung von Armut und Elend, aber auch Verbrechen aus Gier oder Verzweiflung, die Anprangerung von Justiz- und Politwillkür die Oberhand gewinnen.
Die Übersetzung des Schriftstellers Gustav von Meyrink finde ich vorzüglich, selbst im 19. Jahrhundert geboren (1868) trifft er den Ton, die Atmosphäre und den Stil der Epoche. Er ist zudem ein Kenner des Dickens’schen Schaffens, hat er doch außer „Die Pickwickier“ noch „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „Bleakhouse“, „Nikolas Nickleby“, „Martin Chuzzlewit“ und die Weihnachtserzählungen übersetzt.
Ich lege Euch „Die Pickwickier“ ans Herz, ein herrlich frischer, herzerwärmender und vergnüglicher Episodenroman mit vielen Irrungen und Wirrungen, der bei aller Komik nicht die Schattenseiten des viktorianischen Lebens beiseite lässt. Dank dieser Mischung rutscht Charles Dickens niemals in Oberflächlichkeiten ab oder taucht zu tief in die Gefilde des Nonsens ein.
Einfach schön!!!
„Die Pickwickier“ – mein Lese-Exemplar
Charles Dickens, „Die Pickwickier“ (OT gekürzt: „The Pickwick Papers“), Roman, 849 Seiten (ohne die diversen Anhänge), aus dem Englischen übersetzt von Gustav von Meyrink, u. a. mit einem Werkbeitrag aus Kindlers Literaturlexikon, erschienen 2012 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
„Die Pickwickier“ – Quellen und Weblinks
- über den ersten Illustrator, Robert Seymour -> https://victorianweb.org/art/illustration/seymour/pva213.html
- und dessen Nachfolger Hablot Knight Browne -> https://dewiki.de/Lexikon/Hablot_Knight_Browne
- über den Namensgeber des Romans -> https://en.wikipedia.org/wiki/Eleazer_Pickwick
- Gelfert’s Dickens-Biographie auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/gelfert-dickens/
- zu dem Begriff „Dickensian“ -> https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/dickensia
- zu Graf „Smorltork“ -> https://www.puecklerstadt.de/aussergewoehnliche-stadtgeschichten/vom-geplanten-dreier-zum-bestseller.html
- bisher auf Meine Leselampe zu „Die Pickwickier“ -> https://www.meineleselampe.de/author/christianew793gmail-com/ und -> https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-36/
Beitrag aktualisiert am 4.9.2024