„Draculas Gast“ – was hat die Kurzgeschichte des viktorianischen Schriftstellers Bram Stoker (1847-1912) mit dem eigentlichen „Dracula“ zu tun? Schauen wir mal..

„Draculas Gast“ – die Einleitung

Der Ire Bram Stoker hat „Draculas Gast“ möglicherweise als Vorgeschichte zu seinem weltberühmten Klassiker „Dracula“ (1897) konzipiert. 1914 veröffentlichte seine Witwe die kurze Erzählung in dem Sammelband „Dracula’s Guest and Other Weird Stories“.

Wann genau Stoker die Geschichte geschrieben hat und warum, konnte ich nicht herausfinden.

„Draculas Gast“ ist auf jeden Fall eine Einstimmung auf die grausigen Geschehnisse, die Jonathan Harker in „Dracula“ erwarten, hier bekommt Harker erstmals die weitreichende und übernatürliche Macht seines Gast- und Auftraggebers zu spüren.

Leider erschließt sich der Sinn der Kurzgeschichte den „geneigten Leser:innen“ von damals und heute ohne erklärende Worte nicht sofort.

Doch werfen wir zunächst einen Blick auf die gruseligen Erlebnisse des unerschrockenen Harker in der Walpurgisnacht, irgendwo in Bayern, in der Nähe von München…

Draculas Gast“ – der Inhalt

Jonathan Harker bricht bei strahlendem Sonnenschein von seinem Münchner Hotel auf, um in der Kutsche die Umgebung zu erkunden (das nehme ich jedenfalls an, denn die ersten Reise-Etappen von München nach Transsylvanien legte Harker im Zug zurück).

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Der Geschäftsführer des Hotels mahnt Harker und den Kutscher Johann, rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung zurückzukehren. Ein Sturm ziehe auf und – es sei Walpurgisnacht…

(Bild rechts: Witchgarden/Pixabay)

Harker entdeckt nach einiger Zeit eine ruhige Nebenstraße, die in ein malerisches Tal führt. Er lässt den Kutscher halten und weist ihn an, diese Route zu nehmen. Johann gerät in Panik und bittet flehentlich darum, auf dem Hauptweg bleiben zu dürfen. Harker ist verwundert, just in diesem Moment scheuen die Pferde. Johann führt sie ein Stück von der Weggabelung fort, bekreuzigt sich und erklärt Harker, an dieser Stelle sei ein Selbstmörder begraben.

Wie Johann halb auf Deutsch, halb auf Englisch radebrecht, führt der kleine Weg zu einem verwunschenen und seit längerem verlassenen Dorf. Harker kann Johanns sprachliches Kauderwelsch nicht immer genau verstehen, doch er bekommt mit, dass die Bewohner des Dorfes vor 100 Jahren Stimmen unter der Erde gehört hatten, deshalb die Gräber öffneten und die Toten ohne Anzeichen von Verwesung, mit rosigen Wangen und blutverschmierten Mündern auffanden. Wen wundert es, dass dieses Dorf verlassen wurde!

Johann wird während seiner Erzählung immer ängstlicher, er stößt zum Schluss so verzweifelt das Wort „Walpurgisnacht“ hervor, dass Harker Mitleid mit ihm bekommt, selbst aber neugierig geworden ist. Er schickt Johann zurück nach München mit den Worten, die Walpurgisnacht betreffe ihn als Engländer nicht.

Harker sieht der Kutsche hinterher und bemerkt, dass eine große Gestalt ihren Weg kreuzt, die Pferde daraufhin scheuen und durchgehen. Die Kutsche entschwindet rasch aus seinem Blickfeld, der mysteriöse Wandersmann (?) ist auch nicht mehr auszumachen.

Unverdrossen schlägt Harker seinen Weg hinunter in das Tal ein. Mit jedem Schritt wird es kälter, der vorhergesagte Sturm braut sich zusammen. Die Landschaft erscheint auf einmal öde und verlassen. Rasch setzt die Dämmerung ein, es beginnt zu schneien, Blitze zucken am Himmel, Donner grollt und Wölfe heulen.

In dem immer dichter werdenden Schneetreiben kommt Harker vom Weg ab. Er sucht Zuflucht in einem Eiben- und Zypressenwald. Hier erkennt er eine Allee, die zu einem Gebäude zu führen scheint. Er folgt dem Durchgang und steht plötzlich auf einem Friedhof. Das erspähte Gebäude entpuppt sich als Marmorgruft der Gräfin Dolinger aus der Steiermark, die tot aufgefunden wurde. Aus dem Grab ragt eine Eisenstange. Harker entdeckt eine weitere Inschrift, sie lautet:

„Die Toten reisen schnell.“

Seite 198, Bram Stoker, „Draculas Gast“, 14 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampir-Geschichten, herausgegeben von K.B. Leder, Bertelsmann, Gütersloh, s.u.

Bram-Stoker-Fans kennen diese Worte aus „Dracula“…

An diesem unheimlichen Ort wird es unserem tapferen Engländer doch schwach zumute, er erinnert sich an die Warnungen vor der Walpurgisnacht und wünscht, er hätte sie ernster genommen.

„Walpurgisnacht, in der nach dem Glauben von Millionen Menschen der Teufel umgeht; in der sich die Gräber öffnen und die Toten auf Erden wandeln! Eine Nacht, in der sich alles Böse der Erde, der Luft und des Wassers austobt. …“

Seite 198, Bram Stoker, „Draculas Gast“, 14 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampir-Geschichten, herausgegeben von K.B. Leder, Bertelsmann, Gütersloh, s.u.

Dieses geballte Böse der Elemente bekommt Harker nun zu spüren: es stürmt mit unglaublicher Wucht, es hagelt, blitzt und donnert. Harker flüchtet sich in den schützenden Torbogen des Mausoleums, da gibt die Tür nach und er sieht im Dunkeln eine schöne Frau in der Gruft liegen, frisch und unversehrt, als ob sie nur schlafe.

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Eine unbekannte Kraft schleudert Harker zurück aus der Gruft, ein Blitz fährt in die Eisenstange, die Tote bäumt sich auf, Harker hört ihren Schrei, dann drückt ihn etwas mit Wucht zu Boden und er verliert das Bewusstsein.

(Bild links: Enrique Mesguer/Pixabay)

Als Harker zu sich kommt, lastet ein schwerer Druck auf seiner Brust, der ihm die Luft zum Atmen raubt. Es ist ein Wolf, er kauert auf Harker und leckt dessen Kehle. Vor Entsetzen wird Harker erneut ohnmächtig. Das nächste, was er wahr nimmt, ist das Knurren des Wolfes und entfernte Stimmen. Ein berittener Trupp Soldaten nähert sich und schlägt mit Fackeln und lauten Rufen das Untier in die Flucht.

Auch die Soldaten sind angesichts des grauenvollen Ortes angsterfüllt – ist der Wolf ein Wolf oder Schrecklicheres? So schnell es geht, helfen sie Harker, der immer wieder ohnmächtig wird, auf und bringen ihn nach München in sein Hotel.

Vom Empfangschef will Harker wissen, wem er die Rettung zu verdanken hat. Dieser zeigt ihm ein Telegramm des Grafen Dracula aus dem fernen Transsylvanien. Der Graf verspricht darin eine reiche Belohnung für diejenigen, die seinen Gast, den „abenteuerlustigen“ Engländer, vor möglichen Gefahren durch Schnee und Wölfe erretten.

Trotz aller Dankbarkeit schaudert es Harker, wie konnte sein Gastgeber ahnen, in welcher Gefahr er sich befand? Ist die Rettung aus höchster Gefahr ein böses Omen für das Wirken einer unbegreiflichen Macht?

„Draculas Gast“ – der Autor

Oh, ja, wer kennt ihn nicht – Bram (eigentlich Abraham) Stoker, den irischen Vater des „Dracula“. Bram Stoker wurde 1847 in der Nähe von Dublin geboren, er starb 1912 in London, vermutlich an einem Schlaganfall (gerüchteweise heißt es manchmal, er sei an Syphilis verschieden).

Als Kind war er sehr lange krank und ans Bett gefesselt, vielleicht beschäftigten ihn als Erwachsenen deshalb die Themen Tod und Untod so sehr.

Mit siebzehn Jahren begann Bram Stoker in Dublin Geistes- und Naturwissenschaften zu studieren und zeichnete sich als hervorragender Sportler aus, die lange Krankheit hatte wohl keine Spuren hinterlassen.

1870 wurde er Beamter bei der Justizverwaltung in Dublin und schrieb gleichzeitig Zeitungsartikel und Theaterkritiken. Das Theater faszinierte ihn zeitlebens, mit dem Schauspieler Henry Irving war er eng befreundet. 1872 begann Stoker erste Horror – und Kindergeschichten zu schreiben, ab 1875 folgten Romane wie „The Primrose Path“ oder „The Watter’s Mou‘ “ („Der Zorn des Meeres“). 1890 nahm Stoker seinen weltberühmten Roman „Dracula“ in Angriff, sieben Jahre brauchte er dafür. Vermutlich schuf er „Draculas Gast“ auch in dieser Zeit.

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Whitby Abbey an der Küste Yorkshires – hier suchte Bram Stoker nach einer anstrengenden Theater-Tournee Ruhe und fand eine Kulisse und literarische Anregungen für „Dracula“…

(Bild links: Tim Hill/Pixabay)

1878 heiratete Stoker Florence Balcombe, von nun an lebte das Paar in London. Stoker managte das Lyceum Theatre und lernte viele der großen Künstler und Literaten seiner Zeit kennen. Am Sylvester-Tag 1879 kam Florences und Brams Sohn zur Welt, er blieb ihr einziges Kind.

Bram Stoker war vielseitig interessiert, neben dem Theater faszinierten ihn Natur – und Geschichtswissenschaften (z. B. Ägyptologie), die medizinischen Entwicklungen und Trends seiner Zeit (wie Mesmerismus) sowie die wissenschaftlichen Aspekte des Okkultismus. Da er mit einigen Mitgliedern von Geheimbünden befreundet war, vermuteten Zeitgenossen, er gehöre selbst einer solchen Organisation an. Das stimmt wohl nicht, doch sicher verliehen solche Gerüchte dem Autor von Horror- und Fantasy-Geschichten einen mysteriösen Nimbus… gerade in der viktorianischen Ära.

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Leider konnte Bram Stoker bis zu seinem Tod 1912 nicht mehr den weltweiten Erfolg seines „Dracula“ erleben und genießen, der kam erst später, wie so oft.

(Bild rechts: Enrique Mesguer/Pixabay)

„Draculas Gast“ – mein Fazit

Ist „Draculas Tod“ nun ein Prequel oder ein aus „Dracula“ heraus gelöstes Kapitel/ Vorwort oder war es einfach eine literarische „Fingerübung“ zum Warmwerden?

Manchmal denke ich, es ist letzteres, darauf weist eine chronologische Unstimmigkeit hin, die Bram Stoker sicher nicht unterlaufen wäre. Jonathan Harker kehrt lädiert und mit Blessuren an der Kehle von seinen Erlebnissen in der Walpurgisnacht am 30. 4. morgens nach München zurück. Das müsste ja der 1. 5. sein. An diesem Zeitpunkt endet die Erzählung „Draculas Gast“.

Schon am gleichen Abend reist Harker im Zug weiter zu seinem Auftraggeber Graf Dracula, mit der Schilderung der Reise beginnt der Roman „Dracula“. Ein recht knappes Timing! Im Roman wird auch nicht erwähnt, dass Harker verletzt oder angeschlagen ist.

Wie dem auch sei, „Draculas Gast“ ist für Freunde der viktorianischen „Gothic Novel“ ein Lese-Genuss. Bram Stoker inszeniert auch hier grandios die langsam aufkeimende Ahnung von etwas Bösem, das naht – atmosphärisch verdichtet durch Sturm, Gewitter, Schneetreiben, Dunkelheit und Wolfsgeheul. Die Spannung, die sich auf diesen 14 Seiten aufbaut, ist schwer auszuhalten, so mag ich es!

Es ist schade, dass in der Anthologie „Vampire und Untote“ vom Herausgeber zwar ausführlich auf das Phänomen des Vampirs eingegangen, jedoch die Geschichte „Draculas Gast“ nicht in Bezug zu „Dracula“ gesetzt wird. Daher könnten sich auch LeserInnen, die „Dracula“ kennen, durchaus fragen, was diese Geschichte soll. Aber das ist nicht Bram Stokers Schuld…

„Draculas Gast“ – mein Lese-Exemplar

Bram Stoker, „Draculas Gast“, 14 Seiten, in: Vampire und Untote, eine Anthologie von Vampirgeschichten, herausgegeben von Karl Bruno Leder, erschienen 1968 bei Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh.

(Ist ein anderes Exemplar als mein altes von Anno Dazumal…)

Nächste Woche – am Vortag von Halloween – stelle ich daraus eine weitere viktorianische Gothic Novel zum Thema Vampir vor. Der erste in der Runde war John W. Polidori mit „Ein Vampyr“, findet Ihr auf Meine Leselampe unter: https://www.meineleselampe.de/ein-vampir-john-polidori-1819/

„Draculas Gast“ – Quellen und Weblinks

In diesen Links geht es vorrangig um den „Dracula“-Autoren Bram Stoker, sie sind sehr aufschlussreich!!!

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