„Die Frau in Weiß“ – Einleitung
Wilkie Collins (1824-1889), viktorianischer Dramatiker und Schriftsteller, gilt mit seinem Klassiker „Die Frau in Weiß“ als der Vater des Kriminalromans und des Sensationsromans.
Die Geschichte wird von verschiedenen Personen erzählt, den Anfang macht Walter Hartright.
Der junge Zeichenlehrer hat durch die Vermittlung seines Freundes Pesca eine neue Anstellung in Limmeridge-Haus erhalten.
(Bild links: Pexels/Pixabay)
Am Abend vor seiner Abreise nach Cumberland begegnet er in London einer mysteriösen jungen Frau, die ganz in Weiß gekleidet ist. (Hier könnt Ihr es nachlesen: Wilkie Collins: „Die Frau in Weiß“, Teil 1).
Wir haben Hartright nach seiner nächtlichen Ankunft in Limmeridge-Haus seinem verdienten Schlaf überlassen – schau’n wir mal, wie es ihm am nächsten Morgen ergeht…….
„Die Frau in Weiß“ – zum Inhalt
„Die Frau in Weiß“, Erster Zeitraum, Fortsetzung von Walter Hartrights Erzählung (Limmeridge-Haus), Teil 2:
Als Walter Hartright am nächsten Morgen in Limmeridge-Haus erwacht ist und von seinem Fenster aufs Meer blickt, verblassen die Erinnerungen an die Enge der Stadt, den Abschied von Mutter und Schwester und die merkwürdige Begegnung mit der Frau in Weiß ein wenig.
Im Frühstückszimmer begegnet Hartright einer seiner künftigen Schülerinnen, Marian Halcombe. Trotz ihrer tadellosen Figur und graziösen Anmut, trotz ihrer herzlichen Begrüßung und ihrer intelligenten und gewitzten Konversation empfindet Hartright sie als hässlich – hat sie doch einen dunklen Teint (in viktorianischen Zeiten ein No Go), ein Damenbärtchen auf der Oberlippe und schwarze Haare wie Putzwolle.
Marian führt Walter Hartright an einen reich gedeckten Tisch und informiert ihn während des Frühstücks über die abwesenden Familienmitglieder. Die zweite Schülerin, wegen Kopfschmerzen abwesend, ist Laura Fairlie. Sie ist die jüngere Halbschwester Marians, beide Frauen haben eine gemeinsame Mutter.
Sie leben bei ihrem kränklichen Onkel Frederick Fairlie, dem jüngeren Bruder von Lauras Vater. Er ist zugleich Lauras Vormund und verwaltet ihr beträchtliches Vermögen. Marian Halcombes Vater dagegen war nicht reich, sie hat also kein Erbe, von dem sie behaglich leben könnte. Ihre Armut erträgt Marian Halcombe mit Gelassenheit, wichtig ist ihr nur, bei ihrer geliebten Halbschwester zu sein.
Ihren Onkel Frederick Fairlie beschreibt Marian als kränklich, weder er noch die Ärzte könnten seine diversen Leiden diagnostizieren, daher habe man sich auf schwache Nerven geeinigt. Er lebe zurückgezogen und beschäftige sich mit seinen Münz- und Aquarellsammlungen. Letztere zu restaurieren werde Hartrights Beschäftigung am Vormittag sein, am Nachmittag stehe er Laura und ihr als Zeichenlehrer zur Verfügung, erklärt ihm Marian auf ihre spritzig-ironische Art.
Und dann gibt es noch die Gesellschafterin Frau Vesey, eine ältere und freundliche Dame. Ihr werdet sie die meiste Zeit taten- und teilnahmslos irgendwo sitzen sehen, daher werde ich sie nicht mehr oft erwähnen.
(Ein wenig später, auf Seite 53 in meiner Ausgabe von „Die Frau in Weiß“ lässt Wilkie Collins seinen Akteur Walter Hartright eine köstliche Beschreibung abgeben, er glaubt, dass Frau Vesey bei der Schöpfung der Kohlsorten irgendwie dazwischen geraten ist).
Während Marian Halcombe Familie und Alltag in Limmeridge-Haus beschreibt, fällt Walter Hartright wieder die Frau in Weiß und ihre Bemerkung über Frau Fairlie und deren Tochter ein. Er berichtet Marian von seiner merkwürdigen Begegnung und fragt, ob sie etwas von einem kleinen Mädchen weiß, das hier vor Jahren für kurze Zeit mit ihrer Mutter zu tun hatte.
Marian verneint, will aber die Briefe ihrer Mutter lesen, ob darin etwas erwähnt wird. Mittags will sie ihm Bescheid geben. Sie bittet ihn, Laura und Frederick Fairlie nichts davon zu sagen, beide seien nervlich solch mysteriösen Erzählungen nicht gewachsen.
(Empfindliche Nerven, eine leichte Erregbarkeit des Gemüts – das muss in der viktorianischen Gesellschaft ein weit verbreitetes Leiden gewesen sein, auch beim „starken Geschlecht“. Diese Schilderungen der Psyche kommen auch bei Autorenkollegen von Wilkie Collins häufig vor).
Ein Diener erscheint und bittet Walter Hartright, sich nun Frederick Fairlie vorzustellen. Marian Halcombe verabschiedet sich von ihm bis zum Lunch am Mittag und der Diener führt Hartright zu den Räumlichkeiten des Hausherrn.
In einem hohen Raum mit einem dicken, alle Geräusche dämpfenden Teppich und schwacher Beleuchtung findet Hartright Frederick Fairlie, Esquire, umgeben von Kunstschätzen vor. Stellt Euch Fairlie als matte, schwächliche und weibische Erscheinung vor, mit gezierter, hoher Stimme in quengeligem Ton sprechend. Der farblose, eigensüchtige Mann spannt Hartright gleich für verschiedene Handreichungen ein. Oh, und bitte, er möge doch leise sprechen und behutsam auftreten, seine Nerven hielten nicht das leiseste Geräusch aus. Er bitte um Nachsicht mit einem Kranken…….. in diesem Ton geht es weiter.
Es folgen Ausführungen über edle Kunstwerke, trottelige Diener, plebejische Kunsthändler und die Restaurierung von Fairlies wundervoller Aquarellsammlung. Den Zeichenunterricht für seine Nichten erwähnt Fairlie nur nebenbei. Dann wird Hartright vom völlig erschöpften Kranken verabschiedet und ist erleichtert, als er das Zimmer und dessen Bewohner verlassen kann.
In der Zeit bis zum Lunch begutachtet Hartright die Aquarelle. Die bevorstehende Bekanntschaft mit Laura Fairlie und die Frage, ob Marian Halcombe bei der Durchsicht der Briefe ihrer Mutter etwas über die Frau in Weiß gefunden hat, lassen ihn innerlich nicht zur Ruhe kommen. Und so begibt er sich voller Erwartung hinunter ins Esszimmer.
Die apathische Frau Vesey und die energiegeladene Marian erwarten ihn. Laura fehlt wieder – diesmal wegen Appetitlosigkeit. Die zweite Enttäuschung: bisher hat Marian in der Korrespondenz ihre Mutter nichts entdeckt, sie ist aber noch nicht fertig damit.
Nach dem Lunch führt Marian ihren Zeichenlehrer ins Freie, zu einem Gartenhäuschen, wo man Laura treffen will. Und dann ist es soweit, Walter sieht Laura Fairlie. Sie entspricht eher dem viktorianischen Idealbild als ihre Halbschwester: hellbraun-schimmernde Haare, türkisblaue Augen, alles an ihr ist laut Hartright zart, lieblich, fein. Ihre Stimme klingt ihm wie Musik – ich glaube, Walter hat sich sofort in sie und ihr sensibles, etwas schüchternes und schlichtes Gemüt verliebt.
Marian macht den Vorschlag, gemeinsam eine Kutschfahrt zu unternehmen. Es werden drei Stunden in völliger Harmonie. Der Abend wird in gemütlicher und familiärer Stimmung verbracht, Hartright fühlt sich mehr als Gast denn als angestellter Zeichenlehrer. Laura spielt Klavier, Marian sieht die mütterlichen Briefe durch. Kurz nachdem Hartright und Laura auf die Terrasse getreten sind, um frische Luft zu schöpfen, ruft Marian ihn hinein – sie hat in einem Brief etwas zur Herkunft der Frau in Weiß entdeckt……..
Fortsetzung folgt – Teil 3 am Dienstag…
„Die Frau in Weiß“ – mein Lese-Exemplar
Wilkie Collins, „Die Frau in Weiß“, 763 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Arno Schmidt, erschienen 1965 im Henry Goverts Verlag GmbH, Stuttgart / Veröffentlichung Deutscher Bücherbund mit Genehmigung des Henry Goverts Verlags.