„Die Frau in Weiß“ – Einleitung
Den viktorianischen Autor Wilkie Collins kann man getrost dem Genre Trivialliteratur zuordnen, wie viele seiner erfolgreichen Kolleg/innen damals, ohne damit abwertend zu urteilen. Denn die bis heute erfolgreichen Werke der populären Unterhaltungsliteratur des englischen 19. Jahrhunderts unterscheiden sich deutlich von dem, was man heute damit verbindet.
Stilistisch brillant, detailliert und logisch entwickelte Handlungsstränge mit vielen Verästelungen, Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft und/oder sozialen Missständen, psychologisch fein ausgearbeitete Charaktere, intelligente Dialoge. Natürlich gab es damals auch wirkliche „Schundlieferanten“, die ihre Traktate massenweise und billig unters Volk brachten. Die sind aber – zu Recht – in Vergessenheit geraten.
Wilkie Collins Kriminalroman „Die Frau in Weiß“ ist ein perfektes Beispiel für gehobene viktorianische Unterhaltungsliteratur, wir kommen heute zu Teil 9. Da so viele von uns wegen der Corona-Pandemie zuhause sitzen, manchen vielleicht die Decke auf den Kopf fällt, gebe ich meiner Nacherzählung und Rezension mehr Raum.
Hier könnt ihr Euer Gedächtnis nochmal „auffrischen“: „Die Frau in Weiß“, Teil 8
Bisher haben wir das Geschehen den Aufzeichnungen Walter Hartrights und Marian Halcombes entnommen, ab jetzt lässt Collins andere Augen- und Ohrenzeugen zu Wort kommen. Sie schreiben zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt ihre Erinnerungen an diese folgenreichen Sommertage auf.
Faszinierend: Collins lässt seine DarstellerInnen sich gemäß ihres Charakters, ihrer Schicht und ihrer Bildung ausdrücken.
Den Auftakt macht der selbstverliebte Hypochonder, Lauras Onkel Frederick Fairlie. Marian Halcombe liegt nach einer nächtlichen Lauschaktion im Regen schwer erkältet darnieder.
„Die Frau in Weiß“, Zweiter Zeitraum, Fortsetzung des Berichtes durch Frederick Fairlie, Esquire, (Limmeridge-Haus, ungefähr Ende Juni, Anfang Juli), Teil 9
Der von einem (vermutlich eingebildeten) Nervenleiden zerrüttete Fairlie äußert überaus deutlich und verärgert seine Empörung, dass ein leidender Mensch wie er mit den Problemen anderer belästigt wird. Dabei wäre er auf rücksichtsvolle Schonung angewiesen. Doch scheinbar wurden ihm fürchterliche Konsequenzen angedroht, sollte er seine Erinnerungen an die Vorfälle nicht zu Papier bringen. Dieser selbstmitleidige Protest zieht sich durch seine Notizen.
Die erste, die Fairlie aus seinem Müßiggang aufscheucht, ist die Zofe Lady Glydes, Fanny. Sie überbringt Marian Halcombes Brief. Sie erzählt Fairlie, der es gar nicht wissen möchte, dass sie einen zweiten Brief Marians beim Umsteigen in London wie gewünscht in den Briefkasten geworfen hat. Doch vorher sei Merkwürdiges geschehen.
Nachdem Marian mit den Briefen zu ihr in den Gasthof gekommen sei (die Briefe habe sie, Fanny, in ihrem Ausschnitt bewahrt – damals scheinbar ein sicheres und übliches Plätzchen, zumindest bei tugendhaften Frauenzimmern), habe sie Besuch von der Contessa erhalten. Diese sei sehr mitfühlend gewesen wegen ihres Hinauswurfes und habe ihr eigenhändig den abendlichen Tee zubereitet. Nach dem Genuss des Getränkes sei sie zum ersten Mal in ihrem Leben ohnmächtig geworden.
Die Contessa sei schon gegangen, als sie wieder zu sich gekommen sei. Sie habe gleich kontrolliert, ob die Briefe Marians noch sicher in ihrem Ausschnitt steckten. Das waren sie, etwas zerknautschter als vorher. Sie solle Herrn Fairlie eigentlich noch etwas ausrichten von Marian, das habe sie aber vergessen. Das ist Fairlie in all seinem Leiden herzlich egal – wie Fannys Erzählung überhaupt.
Abgang der Zofe – Aufatmen beim Kranken. Als er sich erholt hat, liest Fairlie den Brief Marians und stürzt in die nächste Krise. Marian berichtet, wie grausam Sir Percival seine Gattin behandelt und droht Fairlie mit allerlei Ungemach, sollte er ihr und Laura nicht unverzüglich Zuflucht in Limmeridge-Haus gewähren.
Was gehen ihn die Eheprobleme seiner Nichte an? Er ist doch nicht ledig geblieben, damit andere ihm ihre familiären Lasten aufhalsen. Aber Fairlie hat auch ein wenig Angst vor der resoluten Marian. Um Zeit und Ruhe zu gewinnen, schreibt er ihr, sie solle zunächst allein zu ihm kommen und ihm alles genau schildern, dann werde er entscheiden.
Nach dieser anstrengenden Unternehmung ist ihm keine Ruhe gegönnt. Ein besorgter Brief des Anwaltes Kyrle aus London trifft ein. Er habe einen Brief von Marian Halcombe erhalten, in dem nur ein leeres Blatt gelegen sei. Von Marian habe er auf seine schriftliche Nachfrage keine Antwort bekommen. Nun mache er sich Sorgen – ob Frederick Fairlie wisse, was geschehen sei. Weiss Fairlie nicht und will es auch nicht.
Um dem Fass die Krone aufzusetzen, spricht nun auch noch Conte Fosco vor. In seiner geschmeidigen Art gewinnt er (für einen kurzen Moment) das Zutrauen und das Gehör des „Kranken“. Fosco bringt betrübliche Neuigkeiten: Marian sei erkrankt – nein, nicht ansteckend. Damit nicht genug. In der Ehe von Lady und Sir Glyde krisele es, die alleinige Schuld daran trage sein alter Freund Sir Percival. Es sei geboten, Lady Glyde zu ihrem Schutz in Limmeridge-Haus aufzunehmen.
Er – Fosco – verbürge sich, dass Sir Percival nicht folgen und Fairlie zusätzlich belästigen werde. Marian sei zu krank, um Laura zu begleiten. Daher biete er an, Lauras Zugfahrt sicher und schicklich zu gestalten. Er und seine Gattin, Lauras Tante, verfügten über ein gemietetes Haus in London. Dort könne Laura sich nach der ersten Reise-Etappe erholen. Am nächsten Tag werde er sie selber zum Bahnhof geleiten und in den Zug nach Limmeridge setzen.
Völlig erschöpft unterwirft sich Fairlie der Beredsamkeit des Conte und gibt ihm eine kurze Einladung an Laura mit. Endlich Ruhe für den armen Leidenden, nein, nicht ganz. Vorher muss er noch reinigende Bäder und Waschungen vornehmen. Denn Conte Fosco, dick und groß, könnte auf seinem Körper unzählige Viren und Keime aus Marians Krankenzimmer mitgebracht und sie in Fairlies Zimmer verstreut haben…
„Die Frau in Weiß“, Bericht fortgesetzt durch Eliza Michelson (Haushälterin in Blackwater Park, ab 20. Juni), Teil 9
Nun schreibt eine Zeugin wahrlich christlicher Gesinnung und tugendsamer Redlichkeit (die, wenn auch verarmte, so doch Witwe eines Geistlichen!) und dem zartfühlenden Conte sehr ergeben. Eliza Michelson heißt die Dame, die aus wirtschaftlichem Mangel leider ihr Brot als Haushälterin verdienen muss.
Zunächst berichtet sie, wie Marian am Morgen des 20. Juni in krankem Fieberwahn in ihrem Zimmer aufgefunden wurde. Alle Hausbewohner seien sehr erschrocken und besorgt gewesen, Sir Glyde habe sogleich nach einem Arzt geschickt. Der Conte, Zierde des männlichen Geschlechts, habe Dr. Dawson sofort seine fachliche Hilfe angeboten. Dieser habe die Unterstützung eines Laien jedoch abgelehnt.
In diesem Ton ist der Bericht Frau Michelsons abgefasst, sehr genau und detailliert und „Conte-beflissen“. Ich gebe den Inhalt für Euch kürzer und mit weniger Lobhudeleien wieder:
die Contessa und Frau Michelson teilen sich in die Pflege Marians, mehr oder weniger behindert von der besorgten Laura. Dr. Dawson behandelt Marian ohne den Conte, der sich immer wieder anbietet. Um in seiner rücksichtsvollen Art aus dem Weg zu sein, zieht sich der Conte an den darauffolgenden Tagen zu langen Spaziergängen zurück. Frau Michelson belauscht, wie Sir Glyde den Conte nach dessen Rückkehr eines Abends besorgt fragt, ob er sie gefunden habe.
Da Marian immer elender wird, besorgt der Conte eine Pflegerin: eine gewisse Frau Rubelle aus London. Frau Michelson hält sie für eine Ausländerin und zu exqusit für ihre Stellung gewandet. Das macht die gute Seele misstrauisch. Dr. Dawson ist es ebenfalls und beauftragt Frau Michelson, Frau Rubelle zu überwachen. Fachlich bietet Frau Rubelle jedoch keinen Ansatzpunkt für Kritik.
Conte Fosco macht sich in geschäftlichen Angelegenheiten nach London auf, nach seiner Abreise bessert Marians Gesundheitszustand sich ein wenig und gibt Anlass zur Hoffnung. Aber nur kurzzeitig. Plötzlich verschlimmern sich die Symptome und man schickt einen Boten zu einem Spezialisten nach London. Eine halbe Stunde danach kehrt der Conte zum erwarteten Zeitpunkt von seiner Geschäftsreise zurück, sieht nach Marian und stellt die Diagnose Typhus. Der Londoner Spezialist bestätigt wenig später die Meinung des Conte.
Die nächsten Tage sind laut Facharzt die entscheidenden, sie verlaufen zunächst kritisch. In ihrer Sorge wächst sogar die zarte Laura über sich hinaus, entwickelt „ungeahnte Kräfte“ laut Frau Michelson und ist imstande, 2-3 mal am Tage nach ihrer kranken Halbschwester zu sehen.
Marian schafft es, nach 10 Tagen kann der Spezialist sich beruhigt von dem Fall zurückziehen und ihn in die Hände von Dr. Dawson und den Pflegerinnen legen. Nun bricht auch Lady Glyde entkräftet von all den Aufregungen zusammen.
Die schwelenden Spannungen zwischen dem Conte und Dr. Dawson eskalieren, es kommt zum endgültigen Bruch, der Doktor verlässt Blackwater Park. Der Contessa, Frau Rubelle und Frau Michelson bleibt die Pflege für Marian überlassen.
Ein zweiter Vorfall beunruhigt die Haushälterin zutiefst. Sir Percival Glyde ruft sie in die Bibliothek und befiehlt ihr, den gesamten Haushalt aufzulösen und die Dienstboten fortzuschicken. Seine Freunde, der Conte und die Contessa würden bald nach London ziehen und in spätestens einem Monat würden er und die Damen zur Erholung verreisen. Das Dienstmädchen, das die eingesperrte Laura bewacht hatte, solle bleiben und kochen, eine Frau aus dem Dorf könne Frau Michelson beim Putzen zur Hand gehen. Da ihre Einsprüche nicht fruchten, fügt Frau Michelson sich in die Anweisungen ihres Herrn, ihr schwant nichts Gutes.
Zwei Tage später lässt Glyde sie wieder zu sich rufen, diesmal wohnt Fosco der Unterhaltung bei. Glyde schickt Frau Michelson für einige Tage nach Torquay (damals ein beliebter Urlaubs- und Badeort), um eine geeignete Unterkunft für Lady Glyde und Fräulein Halcombe zu finden. Sir Percival Glyde übergibt Frau Michelson eine Liste mit all den Kriterien, die die Unterkunft erfüllen muss. Die Haushälterin sieht sofort, dass es in keinem Urlaubsort ein derart ausgestattetes Domizil gibt, reist jedoch nach Torquay ab.
Wollen Sir Percival Glyde und Conte Fosco die Haushälterin aus dem Weg haben? Welche dunklen Machenschaften verfolgen die beiden skrupellosen Männer?
Teil 10, Dienstag, 21.04., wie immer auf Meine Leselampe.
„Die Frau in Weiß“ – mein Lese-Exemplar
Wilkie Collins, „Die Frau in Weiß“, 763 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Arno Schmidt, erschienen 1965 im Henry Goverts Verlag GmbH, Stuttgart / Veröffentlichung Deutscher Bücherbund.
„Die Frau in Weiß“ – Quellen und Weblinks
- Wissenswertes über Collins und den ersten Sensationsroman findet Ihr hier -> https://www.wilkie-collins.info/books_woman_white.htm