»So ziehen wir ruhelosen Wanderer bei Tag und Nacht, unter Sonne und Sternen, an staubigen Hügeln hinan und über ermüdende Ebenen, zu Land und zur See, bald kommend, bald gehend, hinüber und herüber aufeinander einwirkend, durch die wunderbare Pilgerfahrt des Lebens.«
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 27.
Little Dorrit (Mitte) mit Maggy und Arthur Clennam
(Bild links: Hablot K. Browne/ Worsdworth Classics 2002/Wikimedia/gemeinfrei)
Inhalt
Little Dorrit – ein paar Worte zur Einleitung und gleich mal Kritik
»Little Dorrit« (Ü: »Klein Dorrit«) erschien – wie die meisten Werke des großen Charles Dickens – in monatlichen Fortsetzungen, in diesem Fall von Dezember 1855 bis Juni 1857. Kurz nach der letzten veröffentlichten Folge brachte der Londoner Verlag Bradbury und Evans den Roman als Buch heraus. Illustriert wurde die Erzählung von Hablot Knight Browne (»Phiz«), Dickens bewährtem Zeichner.
Wie schon in der vergangenen Woche erwähnt -> https://www.meineleselampe.de/meine-leselampe-auftakt-2023/, habe ich leider eine (vermutlich per Scan) reproduzierte Ausgabe in zwei Bänden mit Mängeln erwischt. Häufig sind Anfangsbuchstaben vertauscht, z.B. J statt Z oder gar ein 3I? statt M, Satzzeichen falsch/doppelt/gar nicht gesetzt oder der Satzbau ist verdreht oder lückenhaft und nur schwer zu rekonstruieren. Nirgends ist angegeben, dass Teil 1 den Titel »Armut« trägt und der zweite Band mit »Reichtum« überschrieben ist [1]. Daher erwähne ich dieses Buch unten korrekterweise als Lese- und Zitier-Exemplar, empfehle es aber keineswegs zum Kauf.
Jetzt möchte ich zum Wesentlichen kommen, zu »Little Dorrit«… Die Erzählung beginnt keineswegs mit der Titelheldin oder dem Marshalsea-Gefängnis, in dem sie geboren wurde und mit ihrem Vater lebt (siehe dazu auch -> https://www.meineleselampe.de/und-das-marshalsea-trauma-meine-leselampe-23-kw-05/), sondern in der französischen Hafenstadt Marseille.
Little Dorrit – zum Inhalt
Im heißen und in grelles Sonnenlicht gebadeten Marseille treffen wir auf den Franzosen Rigaud, der seine Frau umgebracht haben soll und im Gefängnis auf sein Urteil wartet. Mit ihm ist ein Italiener namens Johann Baptist in der Zelle eingesperrt, ein kleiner Schmuggler, der sich vor Rigaud fürchtet. Wie erleichtert ist er, als Rigaud von den Geschworenen frei gesprochen wird und von dannen zieht.
Ebenfalls in Marseille – allerdings 30 Jahre später – machen wir Bekanntschaft mit einigen weltreisenden Briten, die hier in Quarantäne ausharren müssen: Mr. und Mrs. Meagles, deren Tochter Pet und Tattycoram, ein Mädchen, das die Meagles bei sich aufgenommen haben. Sie haben sich mit Arthur Clennam befreundet, der aus China zurück in die Heimat reist, nachdem sein Vater in dem ostasiatischen Land gestorben ist. Und da wäre noch die ein wenig unheimliche Miss Wade, die nichts von sich preisgibt und nicht am Austausch von Höflichkeiten interessiert ist.
Sie alle werden, ob als Freunde und Helfer oder als Erpresser, eine Rolle im Leben der Dorrits und der Clennams spielen – jener zwei Familien, die nach außen hin nichts miteinander zu tun haben, jedoch durch einen Vorfall in der Vergangenheit verbunden sind.
Folgen wir Charles Dickens nach London, zum Haus der Clennams, das deutliche Spuren des Verfalls trägt. Hier sucht Arthur seine Mutter auf, die zwar an den Rollstuhl gefesselt ist, des ungeachtet aber die Geschicke der Firma lenkt. Sie wird von dem undurchsichtigen Jeremiah Flintwich und dessen geschundener Gattin Affery betreut. Mrs. Clennam begrüßt ihren Sohn mit Kälte und Strenge – anders kennt Arthur sie seit seiner Kindheit nicht.
Vor 20 Jahren war Arthur mit seinem Vater nach China gegangen, um dort eine Zweigstelle der Firma Clennam aufzubauen. Nun ist Arthur 40 Jahre alt und kündigt seiner Mutter an, dass er die Firma verlassen wird. Und er möchte von ihr wissen, was es mit der Taschenuhr auf sich hat, die ihm sein Vater auf dem Sterbebett noch in die Hand gedrückt hatte. In der Uhr liegt ein kleines Stück Stoff (oder Seidenpapier, je nach Übersetzung) mit der eingestickten Mahnung »Do Not Forget«. Arthur wittert ein düsteres Geheimnis, er befürchtet, die Firma Clennam habe jemandem geschadet und möchte das eventuelle Unrecht wieder gutmachen. Die Mutter verweigert ihm jedoch jegliche Auskunft.
In Mrs. Clennams Zimmer sitzt ein schmächtiges, blasses Mädchen, das mit Näharbeiten beschäftigt ist: Amy Dorrit. Auch bei weiteren Besuchen trifft Arthur sie hier an. Eines Tages beschließt er, sich mit ihr näher bekannt zu machen. Irgendetwas sagt ihm, sie könne in das von ihm vermutete Geheimnis seiner Familie verstrickt sein. Warum sonst würde eine gefühlsarme Frau wie seine Mutter eine kleine Näherin jeden Tag kommen lassen? So lernen die beiden sich kennen und Arthur erfährt, dass Amy Dorrit mit ihrem Vater William im Marshalsea-Schuldengefängnis lebt, ja sogar dort geboren wurde. Mittlerweile ist sie 22 Jahre alt und kennt kein anderes Leben, sie hegt eine
»unüberwindliche Anhänglichkeit an den traurigen Hof und die Häusermasse, die ihr Geburtsort und ihre Heimat waren«.
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 27.
Ihre älteren Geschwister, Bruder Tip und Schwester Fanny, leben außerhalb des Gefängnisses. Fanny ist Tänzerin, Tip ein zügelloser Spieler.
Amy, die im Gegensatz zu ihrem Vater die Haftanstalt ungehindert verlassen darf, arbeitet als Näherin und kann ihren Vater mit Essen und kleinen Annehmlichkeiten versorgen. Sie hat ihr Leben in seinen Dienst gestellt, an sich denkt sie nie. William Dorrit, seit 30 Jahren inhaftiert, hat in einer Mischung aus Egoismus, Verdrängung und Verzweiflung eine ganz eigene Lebensphilosophie entwickelt.
Er hält Hof als angesehener »Vater des Marshalsea« [2], neue Gefangene werden ihm vorgestellt, Besucher entrichten ihm häufig einen Obolus.
(Bild rechts: Clker-Free-Vector-Images/Pixabay)
Arthur Clennam möchte den Dorrits helfen und versucht, im zuständigen Amt, dem »Circumlocution Office«, etwas über deren Fall zu erfahren. Er scheitert kläglich, wie alle anderen Bürger Großbritanniens auch, denn im »Circumlocution Office«, geleitet vom Clan der Barnacles und deren Günstlingen, geht nichts voran. Anträge werden jahrelang zwischen den Abteilungen hin- und hergeschoben, dann wieder her- und hingeschoben, um irgendwann in Vergessenheit zu geraten oder abschlägig beschieden zu werden.
An diesem Ort ohne Hoffnung trifft Arthur Daniel Doyce, einen Erfinder und Konstrukteur, dessen Patentantrag ebenso wie der Fall Dorrit im unergründlichen Getriebe des »Circumlocution Office« festhängt. Die beiden Männer sind sich sympathisch und Arthur wird Kompagnon in Doyces Firma. Doyce ist mit der Familie Meagles befreundet, in deren Tochter Pet Arthur sich verliebt hat. Pet wiederum hat nur Augen für Henry Gowan, einen Möchtegern-Künstler aus angesehener, aber mittelloser Familie.
Dass Little Dorrit ihm ihr Herz geschenkt hat, bemerkt Arthur nicht. Für ihn ist sie lediglich eine kindliche Freundin, die er beschützen möchte. Wie stark die junge Frau ist, erkennt Clennam erst viel später.
Es gibt da noch jemanden, der, bzw. die für Arthur Clennam Gefühle hegt: Flora Casby, verwitwete Finching. Einst waren sie und Arthur ineinander verliebt, jedoch Mr. Casby und Mrs. Clennam waren gegen eine Verbindung und trennten die beiden: Arthur wurde nach China geschickt, Flora in den Ehestand mit dem dahingeschiedenen Mr. Finching. In die Jahre gekommen und in die Breite gegangen, wandelt Flora sich zum neckisch-närrisch-verschämten Jungmädchen, sobald sie Arthurs ansichtig wird.
Ihr Vater, Mr. Casby, besitzt Mietshäuser im »Hof zum blutenden Herzen«, wo auch die Firma von Daniel Doyce angesiedelt ist. Die Mieten treibt ein Mr. Pancks für Casby ein. Clennam lernt den gewitzten Mann kennen und beauftragt ihn, nebenher über die Dorrits zu forschen. Und tatsächlich – nach ausdauernden Recherchen stößt Pancks auf eine Erbschaft, die William Dorrit zusteht.
Vorbei sind die Tage im Marshalsea: William Dorrit und Amy können das Gefängnis verlassen, nicht ahnend, dass der Wohlstand sich nicht als Segen erweisen und nicht lange anhalten wird. Little Dorrit wäre es egal, sie fühlt sich in der Welt der Reichen und Schönen deplaziert. Ihren Geschwistern und ihrem Vater hingegen steigt der Reichtum rasch zu Kopfe.
William Dorrit reist zunächst mit seinen Kindern, seinem Bruder Frederick und mit Mrs. General, die seine Töchter gesellschaftsfähig drillen soll, durch Europa. Er hofft, dass bis zur Rückkehr nach England Gras über seine Marshalsea-Vergangenheit gewachsen sein wird. In Italien macht er die Bekanntschaft einer Landsmännin, der schönen Mrs. Merdle, und vertraut wenig später sein gesamtes Vermögen deren Gatten an, einem in Mode gekommenen und von der Gesellschaft hofierten Londoner Bankier. Das tut auch Arthur, der für seinen Freund Doyce das Firmenkapital mehren möchte…
Mehr verrate ich nicht, wo blieben sonst die Spannung, die Überraschung und alles Übrige, das Euch auf den Buchseiten erwartet?
Little Dorrit – Meine Bewertung
Skurrile, böse und rührend gutmenschliche Charaktere, eine spannende und verschlungene Handlung sowie Kritik an politischen und sozialen Missständen – »Little Dorrit« kann nur von Charles Dickens geschrieben worden sein. Er schafft es, dass uns seine Figuren ans Herz wachsen, wir mit ihnen leiden, uns mit ihnen freuen, obwohl oder vielleicht gerade weil
- der Held Arthur Clennam manchmal irrt und falsche Entschlüsse trifft,
- Little Dorrit eine nahezu unerträgliche Heilige ist,
- Mrs. Clennam in ihrem religiösen Wahn mehrere Menschenleben zerstört,
- Mr. Dorrit, beschädigt durch 30 Jahre Haft, selbstherrlich und mitleidlos handelt
- eine Frau wie Flora ohne Punkt und Komma endlos-naiv-verworren plappert (so wie es wohl Dickens Jugendliebe Maria Bednall tat, als er sie Jahrzehnte später wieder traf)
und so weiter und so fort. Es ist gar nicht möglich, im Rahmen einer Buchvorstellung alle Personen aufzuzählen, die Dickens in »Little Dorrit« aufmarschieren lässt.
Zum Teil erschienen mir die Dialoge oder Monologe ein wenig zu lang, dadurch wurde an einigen Stellen der Spannungsbogen gestört oder Geschehnisse wurden schwer verständlich. Die Auflösung des Geheimnisses der Familie Clennam musste ich zweimal lesen, um sie genau zu begreifen.
Mich haben die bildhaften Beschreibungen mancher Personen begeistert, welch eine Phantasie muss ein Schriftsteller haben, um in einem gern und häufig schnaubenden Mr. Pancks ein Dampfschiff, einen hier anlegenden und dort auslaufenden Schlepper, zu sehen. Mrs. Merdle ist für Dickens schlichtweg »der Busen«, weil ihr üppiger Vorbau sich ausgezeichnet eignet, um vom Gatten mit Geschmeide behängt zu werden und der Gesellschaft all den Glanz aufs Ansehnlichste zu präsentieren. Wunderbar!
Dann wäre da noch unbedingt das »Circumlocution Office« mitsamt den Barnacles (ich sage nur Seepocken!!) zu erwähnen. Darauf gehe ich in der kommenden Woche ein, denn das wird ein wenig ausführlicher und wäre für heute definitiv zu viel.
Little Dorrit – Quellen und Weblinks
[1] Fandom, Charles Dickens Wiki, kein Autor, kein Datum, online: https://charles-dickens.fandom.com/de/wiki/Little_Dorrit, abgerufen am 30.1.2023.
[2] Wikipedia, Marshalsea, Wikipedia-Autoren, 31.12.2022, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Marshalsea&oldid=229351346, abgerufen am 3.2.2023.
Little Dorrit – mein Lese-Exemplar
Dickens, Charles, Klein Dorrit, 2 Bände, 435/402 Seiten, übersetzt von Carl Kolb (?), Jazzybee Verlag Jürgen Beck, Altenmünster, 2016.
Little Dorrit – Buchtipp (Werbung)
Dickens , Charles, »Klein Dorrit«, »Die Armut«, »Der Reichtum«, beide Bände in einem Buch, in der Übersetzung von Carl Kolb (1927 erschienen im Gutenberg Verlag, Hamburg), 876 Seiten, Hofenberg Sonderausgabe, 2019. Eine Reproduktion ist es, ich hoffe, keine lieblos gescannte!!!