Inhalt
»Mugby Junction«: Einleitung
»Mugby Junction«, in der deutschen Übersetzung »Der Eisenbahnknotenpunkt bei Mugby«, lautet eine Sammlung von Weihnachtserzählungen von Dickens und vier MitautorInnen, die der große Meister 1866 in der Zeitschrift »All the Year Round« veröffentlicht hat.
Auslöser für die Thematik der Geschichten war vermutlich der Eisenbahnunfall von Staplehurst, den Charles Dickens 1865 miterlebt und der ihn traumatisiert hatte [1]. Galt es an dem Unglückstag nicht nur die Anwesenheit seiner heimlichen Freundin Ellen Ternant im Zug zu verheimlichen, sondern auch, Verletzten zu helfen und Tote zu bergen…
Vorbild für das fiktive Mugby soll die Stadt Rugby sein, die im viktorianischen Zeitalter zu einem Eisenbahnknotenpunkt heranwuchs. (Und ja, die Sportart wurde dort auch erfunden). Es gibt insgesamt acht Erzählungen/Kapitel – vorstellen möchte ich die zwei, die von den »Gebrüdern Barbox« berichten und eine typisch Dickens’sche Weihnachtsbotschaft vermitteln.
»Mugby Junction«: Gebrüder Barbox – dann war es nur noch einer
…und der heißt Jackson Junior, einer von Charles Dickens verlorenen Helden, ein Mann, der seine Ideale durch die Wechselfälle des Schicksals verloren hat. Nicht mehr jung und seelisch verbraucht. Jackson Junior steigt auf der »Reise nach Nirgendwo« spontan in Mugby aus dem Zug.
Gespenstisch die Beschreibung des Bahnhofs in der Nacht bei Regen und Wind: dunkle schemenhafte Gestalten, durchfahrende Züge, das Kreischen von Eisen, das rote Glühen herabfallender Kohle, auf Transportzügen eingepferchtes, gepeinigtes Vieh. Das Leben des Reisenden fährt an ihm als Zug vorbei mit all den verlorenen Möglichkeiten zum Glücklichsein.
Ein Lampenwärter taucht auf, er nimmt sich des Reisenden an und führt ihn in seinen kleinen Verschlag, damit er dort auf Träger warten kann, die ihn und sein Gepäck zu einer Unterkunft bringen. Das Gespräch der beiden Männer dreht sich um Tätigkeiten, die man ausüben muss, obwohl man es gar nicht will. Dann kommen die Träger und bringen den Reisenden und sein Gepäck zu einer Herberge.
Am frühen Morgen werden wir Zeugen der Selbstgespräche, die Mr. Jackson Junior führt: über sein liebloses Elternhaus, Strenge und Zucht, der Zwang, einen ungeliebten Beruf in der Firma »Gebrüder Barbox« auszuüben, der Verrat der Geliebten und des Jugendfreundes. Nun ist der Mitinhaber der Firma gestorben, Jackson Junior hat alles verkauft und ist ungebunden. Er will ein paar Tage in Mugby bleiben und die Zuglinien zu erkunden.
Auf seinen Spaziergängen entdeckt er ein Häuschen, aus dem viele Kinder kommen. Im Fenster scheint ein Gesicht zu liegen, Hände bewegen sich. Immer wieder läuft Jackson Junior an dem Haus vorbei, bis er sich traut, das Gesicht anzusprechen. So lernt er Phoebe kennen. Sie liegt gelähmt auf einem Sofa, unterrichtet die Kinder Mugby’s, singt und klöppelt. Wie sich herausstellt, ist ihr Vater der Lampenwärter vom Bahnhof. Die Mutter ist tot. Der Vater arbeitet hart und für wenig Geld, trotzdem ist er – wie seine behinderte Tochter – ein froher Mensch.
Jackson Junior fühlt sich bei den beiden wohl, er besucht Phoebe öfter und klagt ihr sein Leid. Er sagt, dass er vor seinem Geburtstag fliehe und bittet Phoebe, ihm bei der Entscheidung zu helfen, welche der insgesamt sieben Bahnlinien er für seine Weiterreise nehmen soll. Um Phoebe eine Freude zu machen, fährt er in die nächstgrößere Stadt und kauft ihr ein handliches Musikinstrument, das sie im Liegen spielen kann.
»Mugby Junction«: Gebrüder Barbox und Co
Jackson Junior, ehemalige Hälfte und späterer Chef der »Gebrüder Barbox«, hat sich erneut auf den Weg in die Nachbarstadt gemacht, wo er für Phoebe Tage zuvor ein Instrument gekauft hatte. Sie hatte ihm empfohlen, diese Route für seine Weiterreise zu nehmen. (Charles Dickens nutzt Jacksons Betrachtungen der Menschen der Stadt für ein Loblied auf die Arbeiterklasse und einen kleinen Seitenhieb auf die hochnäsigen Bessergestellten).
Mitten im Gewühl auf den Straßen bittet ein kleines, kesses Mädchen Jackson um Hilfe, sie habe sich verlaufen. »Gebrüder Barbox« kümmert sich um die Kleine, bringt sie in sein Hotel, gibt ihr zu essen. Plötzlich taucht die Mutter des Mädchens auf. Sie ist seine ehemalige Geliebte, die ihn mit seinem Jugendfreund betrogen und diesen geheiratet hat.
Ihre kleine Tochter Polly hat sie als eine Art Köder geschickt, nun bittet sie ihn um Verzeihung für sich und ihren kranken Mann. Sie beide hätten ihr Unrecht von damals eingesehen und seien mit dem Verlust fast all ihrer Kinder dafür gestraft worden. Ihr Mann habe Angst, dass auch die kleine Polly sterben müsse, wenn die Sache nicht geklärt werde.
Jetzt liegt es an Barbox, das eigene und das Schicksal andere Menschen zu verbessern. Er söhnt sich mit seinem Jugendfreund aus. Als ein verwandelter Mensch kehrt Jackson zurück nach Mugby, um Phoebe alles zu erzählen, fortan andere Menschen und sich glücklich zu machen und friedlich am Eisenbahnknotenpunkt zu leben.
»Mugby Junction«: mein Fazit
Charles Dickens wusste, welch ein Ende eine Weihnachtserzählung haben muss. In die zwei Kapitel/Erzählungen »Gebrüder Barbox« hat er sehr gegensätzliche Stil-Elemente eingearbeitet. Eine atmosphärisch-düstere Landschaft, raues Wetters, armselige Gebäude bringen die Kritik an den sozialen Missständen der industriellen Revolution zum Ausdruck und uns zum Gruseln.
Der Held der Geschichte hat sich verloren, sich selbst entfremdet durch Trauer, Enttäuschung und verpasste Möglichkeiten. Ihm gegenüber stehen Menschen, die ihre Schicksalsschläge mit einer ruhigen Heiterkeit und inneren Zufriedenheit meistern und als Vorbild dienen.
Tja, und weil Weihnachten ist, löst Dickens die Gegensätze zum Wohle aller Beteiligten auf und beendet seine Erzählung harmonisch mit einem gekonnt dosierten Hauch von Kitsch.
Die »Gebrüder Barbox« sind schön zu lesen, überaus stimmungsvoll in dieser Jahreszeit! Ein bisschen Grusel und Schauer, sehr viel Menschlichkeit und Wärme…
Die Erzählsammlung »Der Eisenbahnknotenpunkt bei Mugby« besteht aus, wie schon erwähnt, acht Kapiteln, bzw. acht Erzählungen (vier davon aus Dickens‘ Feder) -> https://en.wikipedia.org/wiki/Mugby_Junction.
Mein altes Buch bringt nur drei Erzählungen. Leider fehlt ausgerechnet Dickens vierter Beitrag zur Sammlung: »Der Bahnwärter« oder »Der Streckenwärter« (»The Signalman« im Original), eine gespenstische Geschichte, die wäre etwas für Halloween gewesen.
(Zeichnung links: Dr. Martin Seher)
Ausgespart habe ich heute »Hauptlinie: Der Junge in Mugby«, obwohl die eigenwillige Erzählung in meinem Exemplar enthalten ist. Recht zynisch vergleicht Dickens die offenbar lieblose englische Dienstleistung – die ihm selbst in der Bahnhofsrestauration von Rugby zuteil wurde – mit dem hervorragenden Service, der Reisenden in Frankreich geboten wird. Da ich nicht ganz verstehe, was Dickens damit an Weihnachten erreichen will, lasse ich das Kapitel aus.
Soviel zu »Mugby Junction«. Falls Ihr den letzten Charles-Dickens-Weihnachts-Beitrag auf Meine Leselampe verpasst habt, könnt Ihr ihn hier nachlesen -> https://www.meineleselampe.de/lirripers-vermaechtnis/.
Dieser Beitrag wurde am 30.10.2024 aktualisiert.
»Mugby Junction«: Quellen und Weblinks
[1] Wikipedia, Eisenbahnunfall von Staplehurst, 25.6.2024, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Eisenbahnunfall_von_Staplehurst&oldid=246211796 [30.10.2024]
»Mugby Junction«: mein Lese-Exemplar (Werbung)
Charles Dickens, »Weihnachtserzählungen«, daraus »Der Eisenbahnknotenpunkt bei Mugby« mit »Gebrüder Barbox« und »Gebrüder Barbox und Ko«, 55 Seiten, bearbeitet, übersetzt und herausgegeben von D. P. Johnson (überarbeitete Gesamtausgabe unter Verwendung der Übertragungen von Karl Kolb und Julius Seybt), mit Illustrationen der Erstausgabe, Magnus Verlag Essen (kein Erscheinungsdatum).
Mein altes Exemplar werdet Ihr kaum noch auftreiben können, daher schlage ich dieses vor:
Dickens, Charles, Weihnachtserzählungen, Übersetzung durch Isabelle Fuchs, Karl Kolb, Julius Seybt, 672 Seiten, Anaconda Verlag, 2021.