„Ruth war unschuldig und rein wie frisch gefallener Schnee“. (…) „Ihr Dasein bestand aus Fühlen und Denken und Lieben.“
Seite 54 und 88, „Ruth“, Gaskell, Elizabeth, Norderstedt, 2017.
Inhalt
„Ruth“ – Einleitung
Der Roman um eine junge Frau, die sich aus Not, Unwissenheit und Liebe verführen lässt, verlassen wird, ein uneheliches Kind bekommt und irgendwie in der viktorianischen Gesellschaft und ihren strengen Normen überleben muss, erschien 1853.
Die Verfasserin, Elizabeth Cleghorn Gaskell, war zu dem Zeitpunkt schon eine anerkannte Schriftstellerin.
Es ist erstaunlich und mutig, dass sie sich als Frau, noch dazu eines unitarischen Geistlichen, immer wieder an solch brisante Themen („Mary Barton“, 1848 und später „Sylvia’s Lovers“, 1863) heranwagte: über „sündige“ Frauen wollte die Gesellschaft (offiziell) nicht lesen.
(Bild links: SeashellGypsy/Pixabay)
Die viktorianische Zeit war prüde und urteilte streng, offenbar war die Lektüre des Romans „Ruth“ in Gaskells Familie verboten, zwei Bekannte sollen das Buch sogar verbrannt haben, vgl. [1].
Vermutlich können wir uns das heute nicht mehr vorstellen, aber der Weg einer ledigen Mutter führte meist in eine der sogenannten Besserungsanstalten oder in die Prostitution, auf jeden Fall in Armut und Elend. Krankheiten und ein früher Tod waren ihr gewiss. Elizabeth Gaskell zeigt in „Ruth“ eine Alternative zu einem Schicksal „schlimmer als der Tod“ auf…
„Ruth“ – zum Inhalt
Ruth Hilton ist eine mittellose Waise, abhängig von einem Vormund, der wenig an ihr interessiert ist. Er schickt sie nach Fordham, zur Ausbildung bei Mrs. Mason, einer Näherin, die viele Mädchen beschäftigt oder besser gesagt: ausbeutet. Ruth, die als Landkind die Natur und frische Luft liebt, fühlt sich in dem trostlosen Betrieb eingesperrt.
Auf einem Ball, bei dem sie und einige andere Mädchen bereitstehen müssen, um etwaige Schäden an den Kleidern der vom Schicksal Begünstigteren auszubessern, lernt sie Mr. Bellingham kennen, den ihr schönes Gesicht fasziniert.
(Bild rechts: Darkmoon_Art/Pixabay)
Zufällig sehen sie sich bei der Rettungsaktion für einen ertrinkenden Jungen wieder, von da an treffen beide sich hin und wieder beim sonntäglichen Gottesdienst. Bellingham geht aus Kalkül behutsam vor, denn er spürt Ruth’s Unschuld. Bei einem Ausflug aufs Land besuchen sie den Gutshof, auf dem Ruth früher mit ihren Eltern gelebt hatte. Sie vergessen die Zeit, machen sich spät erst auf den Rückweg und laufen Mrs. Mason in die Arme, die das Verhalten ihrer Angestellten für unanständig befindet und sie an Ort und Stelle herauswirft.
Was tun? Ruth ist verzweifelt, Mr. Bellingham sieht seine Stunde gekommen. Er redet ihr gut zu, bei ihm zu bleiben, erklärt ihr seine Liebe. An dieser Stelle wendet die Erzählerin Mrs. Gaskell sich direkt an uns Lesende – sie tut das einige Male im Verlauf der Geschichte – und wirbt um Verständnis für Ruth‘ bevorstehende Entscheidung:
„Bedenken Sie, wie jung und unschuldig und mutterlos sie war! Es schien ihr, als wäre es Glück genug, bei ihm zu sein; und was die Zukunft anging, so würde er sich darum kümmern und darüber entscheiden.“
Seite 68, „Ruth“, Gaskell, Elizabeth, Norderstedt, 2017.
Das für damalige Zeiten Unfassbare, Schockierende, Nicht-zu-Verzeihende geschieht: das unerfahrene Mädchen begleitet Mr. Bellingham nach London. Im Sommer sehen wir das Paar in einem Bergdorf in Nordwales wieder, dort machen sie Ferien. Was in der Zwischenzeit geschehen ist, erfahren wir nicht.
Aber wie Ruth merken wir, dass der von seiner Mutter verzogene Mr. Bellingham schnell gelangweilt ist und unterhalten sein will. Wie Ruth spüren und erfahren wir, dass die anderen Feriengäste um ihr skandalöses Verhältnis wissen und sie verachten. Bis auf einen: Mr. Benson, ein buckliger kleiner Herr, der sich Sorgen um das Mädchen macht.
Plötzlich erkrankt Mr. Bellingham schwer. Seine Mutter wird herbeigeholt, um ihn zu pflegen, die „unanständige Person“, die ihren Sohn verführt hat, drängt sie beiseite. Als es Bellingham besser geht, bringt seine Mutter ihn fort, für Ruth hinterlässt sie einen Brief mit Geld und dem Rat, sich in eine Besserungsanstalt zu begeben.
Wäre da nicht Mr. Benson, der aufmerksame Beobachter, hätte die Verlassene sich umgebracht. Er folgt ihr, die sich in einem Gebirgsfluss ertränken will, stürzt, verletzt sich und hält sie dadurch von ihrem Tun ab. Denn auch in ihrer äußersten Not sieht Ruth das Leid anderer und hilft dem Verletzten.
Mr. Benson lässt seine Schwester rufen, um dem jungen Mädchen beizustehen und mit ihr zu beraten, was sie für sie tun können. Thurstan Benson ist Pfarrer einer Dissenter-Gemeinde [2], er lebt gemeinsam mit seiner Schwester Faith und der Dienstmagd Sally in dem kleinen Städtchen Eccleston. Viel Geld haben sie nicht, aber viel Mitgefühl. Als sich herausstellt, dass Ruth schwanger ist, nehmen sie sie mit sich nach Hause.
Schweren Herzens geben sie die junge Frau als Witwe Mrs. Denbigh aus, sie lügen, um Ruth und ihrem Kind ein Leben frei von Ausgrenzung und Schande zu ermöglichen. Einzig Sally (stolz darauf, rechtschaffene Anglikanerin zu sein!!), die seit ihrer Jugend bei der Familie Benson ist, durchschaut die Sache.
Ruth bringt einen kleinen Jungen zur Welt, Leonard, er ist ihr Ein und Alles, ihr Trost in diesen Jahren der inneren Buße und Reue. Als sie mit Hilfe von Sally und Miss Benson ihre traurige Lethargie überwunden hat, betet Ruth viel, bildet sich mit Mr. Bensons Hilfe, um ihren Sohn unterrichten zu können, hilft bei der Hausarbeit und wo sie kann.
In der Gemeinde gilt sie als fromm und fleißig, der reiche, gönnerhafte Sittenwächter Mr. Bradshaw wird auf sie aufmerksam und stellt sie als Erzieherin für seine zwei jüngsten Töchter ein.
(Bild links: Prawny/Pixabay)
Alle könnten in ruhiger Harmonie leben, doch das Schicksal will es anders: Mr. Bellingham, der nun Donne heißt, taucht als Kandidat für den Wahlkreis Eccleston auf, erkennt seine einstige Geliebte und bedrängt sie, ihn zu heiraten. Ruth widersteht. Zwar liebt sie Donne noch immer, erkennt aber, dass ein Mann von seinem Charakter ihrem Sohn kein guter Vater wäre.
Und dann kommt Klatsch auf, Klatsch über Ruth, ihre Zeit in Fordham, ihr Verhältnis mit Bellingham. Und die Ecclestoner Gesellschaft glaubt, was sie hört und hat, allen voran Mr. Bradshaw, ein Urteil schnell zur Hand:
„Die Welt hat darüber entschieden, wie mit solchen Frauen zu verfahren ist; und Sie können sich darauf verlassen, dass es auf der Welt so viel praktische Lebensweisheit gibt, dass ihre Vorgehensweise auf lange Sicht richtig ist und ihr niemand ungestraft völlig widersprechen kann, es sei denn, er ließe sich tatsächlich zu Täuschung und Betrug herab.“
Seite 388, „Ruth“, Gaskell, Elizabeth, Norderstedt, 2017.
Ruth, Leonard und den Bensons wird das Leben schwer gemacht, nur noch wenige Menschen halten zu ihnen. Ruth findet keine Arbeit mehr, die kleine Kirche, in der Mr. Benson predigt, leert sich, Mr. Bradshaw entzieht der Familie seine gönnerhafte Freundschaft.
Als eine Typhusepidemie Eccleston heimsucht, zeigt Ruth, wieviel aufopfernde Güte und Menschenliebe in ihr wohnen und zahlt einen hohen Preis…
(Bild rechts: jclk8888/Pixabay)
Mehr möchte ich nicht verraten…
„Ruth“ – mein Fazit
Stellenweise mag der Roman uns heute sehr fromm erscheinen: Elizabeth Gaskell arbeitet mit vielen Bibelzitaten und Gleichnissen, sie verleiht ihrer Titelfigur, nachdem sie diese mehrmals durch das Fegefeuer geschickt hat, fast die überirdische Reinheit einer Heiligen.
Doch es war eine andere Zeit, eine Zeit der Intoleranz, des harten Urteils, der Ungnade. „Gefallene Frauen“ hatten nichts mehr zu erwarten und endeten – wie eingangs erwähnt – als Prostituierte oder in Besserungsanstalten, auf jeden Fall hatten sie und die „Früchte ihrer Schande“ keine Zukunftsperspektiven.
Gaskell zeigt einen anderen Weg für „Sünderinnen“ auf. Sie beweist, dass ein Mensch unschuldig in eine entehrende Situation geraten, sich nichts desto trotz entwickeln und charakterlich festigen kann, um ein anständiges Leben zu führen [3]. Unbescholtener als das Leben so mancher „ehrenwerter Säulen der Gesellschaft“. Ein sehr gewagtes Unterfangen im 19. Jahrhundert!!!
Immer wieder wendet sich Gaskell direkt an ihre Leser, um sie einzubinden, vielleicht auf ihre und Ruth’s Seite zu ziehen. Nicht alle konnte sie überzeugen, solch ein Frauenschicksal überforderte die Viktorianer. Wer der gängigen Doppelmoral anhing, konnte nicht großzügig urteilen oder gar verzeihen. Zu fest waren die moralischen Standards in den Hirnen eingebrannt, zu groß die Sorge, selbst geächtet zu werden.
Welch eine großherzige, moderne und wahrhaft christliche Frau muss Elizabeth Gaskell gewesen sein, sich über dieses Denken und diese Ängste zu erheben.
Ein im wahrsten Sinne des Wortes gutes Buch, das viel über die dunklen Seiten einer Ära vermittelt.
Die prüde Denkungsart liegt gar nicht so lange zurück: als Kind lebte ich mit meinen Eltern in den 60er und 70er Jahren (des 20. Jahrhunderts) in einer katholisch geprägten Stadt. Einer der Oberhirten besuchte regelmäßig die Ehepaare unter seinen Schäfchen und erkundigte sich, ob ihr Beischlaf tatsächlich nur zu dem Zwecke erfolge, ein Kind zu zeugen (all das erzählten mir meine Eltern erst später). Alleinerziehende, berufstätige Mütter wurden misstrauisch beäugt, wehe ihnen, sie wurden mit einem Mann gesehen. Ihre Kinder nannte man übrigens „Schlüsselkinder“, auch eine Abwertung sondergleichen.
„Ruth“ – mein Lese-Exemplar
Elizabeth Gaskell, „Ruth“, Roman, 524 Seiten (incl. Anmerkungen), übersetzt und herausgegeben von Christina Neth, erschienen 2017 bei Books on Demand, Norderstedt.
Wer es lieber im Original lesen möchte: „Ruth“, herausgegeben von Angus Easson, erschienen 1997 bei Penguin Classics, 432 Seiten.
„Ruth“ – Quellen und Weblinks
[1] zur Kritik an Gaskells Roman, u.a. -> http://victorian-era.org/elizabeth-gaskell-biography/ruth-by-elizabeth-gaskell.html.
[2] Dissenter waren protestantische Gläubige, die sich von der anglikanischen Hochkirche getrennt hatten. Es gab viele verschiedene Gemeinschaften dieser Art. Die Unitarier, denen Mrs. Gaskell und ihr Mann angehörten, existieren heute noch, vgl. -> https://de.wikipedia.org/wiki/Dissenter.
[3] Zitat dazu -> https://www.meineleselampe.de/goes-ruth-viktorianische-zeilenreise-22-17/