Inhalt
„Suspiria de Profundis“ – Einführung
„Suspiria de Profundis“ oder „Neue Folge der Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ erschien 1845, allerdings unvollständig und ist eine Sammlung brillanter Essays des Philosophen und Literaten Thomas de Quincey (1785-1859). Einige weitere „Suspiria“-Aufsätze wurden 1891 nach de Quinceys Tod veröffentlicht, aber viele sind leider verlorengegangen.
(Kurzer Einschub, bevor es losgeht: Ihr findet das Buch unter dem deutschen Titel „Seufzer des Verderbens“!!!)
Bereits 1821/1822 machte sich de Quincey einen Namen mit „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, in denen er schonungslos seine Abhängigkeit vom Opium schilderte, manchmal recht sachlich, manchmal poetisch, oft mit einigen Erinnerungslücken.
Ich habe das Buch vergangene Woche auf Meine Leselampe vorgestellt: -> https://www.meineleselampe.de/bekenntnisse-eines-englischen-opiumessers-1821-22/.
„Suspiria de Profundis“ – Seufzer aus der Tiefe, Seufzer aus dem Abgrund – meint de Quincey die Abgründe der menschlichen Seele oder die in der Tiefe ruhenden Jugenderinnerungen? Fragen wir ihn einfach!
„Suspiria de Profundis“ – Vorbemerkung
Mr. de Quincey, die Macht und die Qualität der Träume beschäftigte Sie schon während der ersten und zweiten „Episode“ Ihrer Opiumsucht und in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“. In Ihrer Vorbemerkung zum Nachfolgewerk 1845 greifen Sie das Thema wieder auf und beleuchten es psychologisch und mythisch, in wunderbarer Prosadichtung.
Und leider wissen wir, dass Sie zu diesem Zeitpunkt längst wieder Opium konsumierten (Sie nennen es Ihr drittes und letztes Stadium) – nach bedrückenden Jahren und qualvollen Erlebnissen. Mitte der 1820er Jahre zogen Sie mit Ihren acht Kindern und Ihrer Frau nach Edinburgh, wo Sie hofften, als Zeitungsschreiber Geld verdienen zu können. Das klappte wohl nicht, denn 1833 waren Sie bankrott. 1837 starb Ihre Frau und Sie verfielen dem Opium immer mehr…
Und wie Sie 1821/22 in Ihren Bekenntnissen die Wirkung des Opiums auf die Träume untersucht hatten, wendeten Sie sich auch in „Suspiria de Profundis“ wieder den Träumen und der schlafenden Psyche zu.
Der Opiumrausch und seine bedrohlichen Traumgesichter…
(Bild links: Gerd Altmann/Pixabay)
Die hektischer gewordene Zeit mit ihren vielen technischen Neuerungen (ein Trauma von Euch Viktorianern, war es nicht so?), die politischen Umbrüche in Europa (Revolutionen ringsherum – auch so ein viktorianisches Trauma) forderten Tribut von der menschlichen und von Ihrer eigenen Seele – ich darf Sie zitieren:
„Der Sinn für Größe und Schönheit, den jeder in sich trägt, wird abgestumpft von dieser ewigen Hetzjagd in einer zu engen menschlichen Arena…“
Seite 93 aus Thomas de Quinceys „Suspiria de Profundis“ in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, 172 Seiten (ohne Anmerkungen), übersetzt von Walter Schmiele, erschienen 1965 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) München.
Heute ist es nicht viel anders, glauben Sie mir, Mr. de Quincey. Was hätten Sie wohl zur Digitalisierung gesagt? Sie kritisieren, dass es in Ihrem Zeitalter nicht mehr genügend Einsamkeit für den Einzelnen gibt und das sich das auf das Traumvermögen auswirkt. Oh, wie entsetzt würden Sie sein über die als selbstverständlich empfundene Dauerverfügbarkeit des Individuums allein durch das Smartphone. Was macht das in meiner Zeit wohl mit den Träumen???
Doch Träume werden Ihrer Meinung nach nicht nur von der Hektik und den Themen der Zeit oder von Rauschmitteln beeinflusst, sondern, wie Sie an sich selbst erfahren mussten, von traumatischen Erlebnissen der Kindheit (die Sie mit dem Opium heilen wollten). Besonders die düsteren Wolkenfelder und die sich auftürmenden menschlichen Gesichter in Ihren Träumen weisen Sie kindlichen Erfahrungen zu.
„Suspiria de Profundis“ – Das Kindheitstrauma
„Das Kindheitserlebnis war der Bundesgenosse und natürliche Helfer des Opiums. (…) Es steht zu den Erschütterungen innerhalb meiner Traumwelt in so enger Beziehung wie das Opium“.
Seite 135 aus Thomas de Quinceys „Suspiria de Profundis“ in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, 172 Seiten (ohne Anmerkungen), übersetzt von Walter Schmiele, erschienen 1965 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) München.
Sie waren ein schüchternes Kind und litten früh unter der Bosheit der Welt – in diesem Essay verarbeiten Sie, Mr. de Quincey, die Ängste Ihrer Kindheit und den frühen Tod Ihrer Lieblingsschwester Elisabeth. Sie selbst waren sechs Jahre alt, Elisabeth acht Jahre – Ihre alles „überstrahlende Fürsorgerin“ und Freundin, wie Sie sie nannten. Sie sahen aus ihr das „Licht des Paradieses leuchten“.
„Das Dunkel, das sich nach Deinem Tod um mich zusammenzog, hat mich tief ins Leben hinein verfolgt.“
Seite 104 aus Thomas de Quinceys „Suspiria de Profundis“ in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, 172 Seiten (ohne Anmerkungen), übersetzt von Walter Schmiele, erschienen 1965 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) München.
(Bild rechts von Maurice Garlet/Pixabay)
An Elisabeths Totenbett hatten Sie eine Art göttlicher Vision, die Sie später an Opiumhalluzinationen erinnerte, nur das damals ein lang andauernder Augenblick zusammengerafft wurde, während sich in Ihren Opiumträumen ein kurzer Moment zu einer Ewigkeit ausdehnte. Am Bett Ihrer Schwester hörten Sie den Wind der Sterblichkeit, stieg Ihr Geist zu Gottes Thron empor, der allerdings immer weiter zurückwich…
Ihr sehr früh einsetzendes kindliches Erinnerungsvermögen und die Betrachtungen, die Sie als Kind anstellten, die Art, Ihre Erfahrungen zu verarbeiten, sind bemerkenswert.
Eine Ahnung vom Tod, wenn die Knospen sich im Frühjahr entfalteten und die Natur erblühte… Die Erkenntnis, dass Einsamkeit lebensnotwendig, aber zugleich eine bleierne Last sei… Das unerträgliche Leben in Sklaverei, das angekettete Hofhunde führen mussten… Erste Bücher-Schulden, die den jugendlichen Taschengeldempfänger Thomas in die Verzweiflung trieben…
Aus einer Kindheit in einem äußerlich angenehmen Rahmen lagerten sich bei Ihnen eher die bedrückenden Szenarien in ihrem Gedächtnis-Palimpsests ab. Und die kamen später in Ihren Opium-Angstträumen hoch.
„Suspiria de Profundis“ – Der Palimpsest
Ja, der Palimpsest, diesen Artikel beginnen Sie mit spöttischem Humor über erhabene Männer, die Frauen des Griechischen belehren und die Dummheit des Menschen als göttlicher Besitz – fein herausgearbeitet!!
Doch als sensibler Philosoph und Psychoanalytiker verfolgen Sie bald Ihr wirkliches und ernstes Anliegen!!
Der Palimpsest war (und ist) eine Pergament- oder Papyrusrolle, die im Laufe der Geschichte immer wieder überschrieben wurde – aus Materialmangel. Und so wie es den Wissenschaftlern Ihrer Zeit gelang, die gelöschten Texte wieder sichtbar zu machen, so sind auch die überlagerten Erinnerungen im Gehirn des Menschen niemals verschüttet.
Sie sprechen von „unserem Tiefenerinnerungs-Palimpsest himmlischen Ursprungs“, von „erhabener innerer Einheit des Menschen“, von dessen „elementarer Stabilität“ (Seite 141). Und in der Stunde des Todes, in Fieber- oder Opiumträumen treten all diese Erinnerungen hervor…
Mr. Thomas de Quincey, ich könnte so viel mehr schreiben über Ihre Essays, doch meine geneigten LeserInnen sollen ja die Ihren werden. Daher möchte ich mich im begrenzten Rahmen einer Buchvorstellung damit begnügen, kurz Ihre weiteren Kapitel und Ausführungen zu umreißen und so Neugier zu wecken.
Wie „Das Kindheitstrauma“ und „Der Palimpsests“ gehören auch die Kapitel „Levana oder die Mütter der Schmerzen“ (sehr mythisch) und „Das Brockengespenst“ (hier führen Sie den Schattendolmetscher ein) zum Ersten Teil Ihrer „Suspiria de Profundis“.
Es folgt mit dem Artikel über die versunkene Stadt „Savannah de Mar“ und Ihrer These, dass Gottes Gegenwart die Zukunft sei und sich nur so die Leiden der menschlichen Gegenwart erklären lassen, das Finale des Ersten Teils.
Im Zweiten Teil beobachten Sie die unglückliche Tochter einer längst verstorbenen Mutter, sie deuten ihr Schicksal und das ihrer Zwillingsschwester an, gehen auf die leidvollen Erfahrungen der Tante ein und enden Jahre später bei Grace, der Enkelin und anscheinend Letzten dieser Linie.
Mr. de Quincey, Sie betrachten Grace, fragen sich und uns, was wohl vor ihr liegen mag. Melancholisch stellen Sie fest, dass wir dem Tod ins Gesicht zu sehen haben und fragen – ähnlich wie in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ – :
„Aber wenn wir wüssten, was das Leben für Möglichkeiten für uns bereithält (an manchen von uns werden sie verwirklicht) – könnten wir dann auch, ohne zu schaudern, (…), in der Stunde der Geburt dem Leben ins Gesicht sehen?“
Seite 172 aus Thomas de Quinceys „Suspiria de Profundis“ in „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, 172 Seiten (ohne Anmerkungen), übersetzt von Walter Schmiele, erschienen 1965 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) München.
Und mit diesen Sätzen beenden Sie ihre „Suspiria de Profundis“…
„Suspiria de Profundis“ – mein Fazit und Abgesang
Wie „Bekenntnisse eines Opiumessers“ ist „Suspiria de Profundis“ gespickt mit Zitaten bekannter Schriftsteller (u.a. Shakespeare, Milton, Wordsworth), griechischer und römischer Philosophen, mit psychologischen Thesen, mit mythologischen und religiösen Verweisen sowie wissenschaftlichen Erläuterungen. Ihr umfassendes Wissen, das Ihre Werke widerspiegeln und das mich immer wieder zwang, viele Fakten nachzuschlagen, ist bemerkenswert, Mr. de Quincey.
In „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ ist Ihr Stil über lange Strecken recht sachlich, in „Suspiria de Profundis“ dagegen werden Sie viel poetischer, kein Wunder, dass Literaturwissenschaftler diese Essays zur Prosadichtung zählen. Wunderbar zu lesen, viele und oft gegensätzliche Gefühle wurden in mir wachgerufen.
Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen angelangt und was kam noch bei Ihnen so?
1853 fingen Sie an, Ihre gesammelten Werke zu bearbeiten und herauszugeben, nicht alle wurden veröffentlicht, schade. Lesen möchte ich von Ihnen unbedingt noch: „Die letzten Tage des Immanuel Kant“(1827) und „Der Mord als schöne Kunst betrachtet“ (auch 1827).
1859 starben Sie und die Welt war um einen brillanten Denker, psychologischen Tiefenanalysten und poetischen „Wortbildermaler“ (das ist von mir) ärmer.
„Suspiria de Profundis“ – Quellen und Weblinks
-> mehr zu den verschollenen Suspiria-Essays: https://en.wikipedia.org/wiki/Suspiria_de_Profundis
-> mehr über Thomas de Quincey aus britischer Sicht: https://www.britannica.com/biography/Thomas-De-Quincey
„Suspiria de Profundis“ – mein Lese-Exemplar
Thomas de Quincey, „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, 172 Seiten (inclusive „Suspiria de Profundis“, aber ohne Anmerkungen), übersetzt von Walter Schmiele, erschienen 1965 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) München.
Empfehlen kann ich die englische Ausgabe, im Original kommt manches wesentlich genialer rüber…