„Tess“ – Einleitung

„Tess of the d’Urbervilles“ – so lautet der Originaltitel des 1891 erschienenen Romans von Thomas Hardy. Untertitel: „A Pure Woman, Faithfully Presented by Thomas Hardy“.

Tess, eine reine Frau – in den Augen ihres literarischen Vaters sicherlich, in den moralisch strengeren Augen der viktorianischen Leserschaft gewiss nicht. Die Reaktionen waren recht gespalten. So schreibt Dorothee Birke in ihrem Nachwort (in meinem Lese-Exemplar), dass sogar Familien sich in Für oder Wider den Roman spalteten und Gastgeberinnen ihre Gäste ebenfalls nach ihrer Meinung über „Tess“ am Tisch platzierten. Nichts desto trotz verdiente Hardy gutes Geld mit seiner „Tess“.

Tess

Ich habe das Buch gelesen und die vierteilige BBC-Miniserie „Tess of the D’Urbervilles“ vom britischen Regisseur David Blair mit Gemma Arterton als Tess (2008) auf DVD gesehen. Beides, Buch und DVD möchte ich vorstellen.

(Bild links von Prettysleepy/Pixabay)

Spätestens seit der Roman-Polanski-Verfilmung von „Tess“ mit Nastassja Kinski in der Hauptrolle (1979) kennen die meisten das Drama um die unschuldig Schuldige. Doch wer kennt heute noch den Schriftsteller Thomas Hardy, der in der spätviktorianischen Ära zu den bedeutendsten seiner Zunft gehörte?

„Tess“ – über den Autor

Thomas Hardy wurde 1840 in der Nähe von Dorchester in Dorset geboren. Sein Vater war Steinmetz und – je nach Quelle – Baumeister. Thomas Hardy lernte bei einem Architekten und arbeitete nach abgeschlossener Lehre in einem Architekturbüro in London. Gern hätte er studiert, um Geistlicher zu werden, doch seine Schulbildung und später auch sein Glauben reichten dafür nicht aus.

Hardy verlegte sich auf das Schreiben von Gedichten, die jedoch kein Verleger veröffentlichen wollte. Mehr Erfolg hatte er 1874 mit dem Sensationsroman „Desperate Remedies“, der zum Großteil vernichtet wurde.

Dann folgten seine teilweise düsteren und realistischen Gesellschaftsromane, von denen viele in der fiktiven Grafschaft Wessex – die seinem Heimat-Distrikt Dorset nachempfunden sind – spielen und deren Held:innen hilflose Spielbälle von Schicksalsmächten und Opfer der gestrengen viktorianischen Moral sind.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen bis heute „Tess of the D’Urbervilles“ (1891) und „Jude the Obscure“ von 1895, der auch sein letzter Roman sein sollte. Hardy war die Kritik des sittenstrengen Publikums auf Dauer zu viel und so wandte er sich wieder der Vers-Dichtung zu, diesmal mit wesentlich mehr Erfolg, der bis heute anhält.

Zweimal war Thomas Hardy verheiratet, seine erste Frau, Emma Lavinia Gifford, starb 1912. Zwei Jahre später nahm Hardy seine wesentlich jüngere Sekretärin Florence Emily Dugdale zur Frau. Sie überlebte ihn und veröffentlichte seine (von ihm vorab verfassten) Memoiren.

Thomas Hardy starb 1928 in seiner geliebten Heimat Dorchester. Sein Herz wurde bei seiner ersten Frau Emma in Stifford/Dorset begraben, seine Asche in der Poest Corner in der Westminster Abtei in London.

Tess
(Bild von Gordon Johnson/Pixabay)

„Tess“ – der Inhalt

Jack Durbeyfield, seine Frau Joan und ihre sieben Kinder leben in ärmlichen Verhältnissen in dem Dorf Marlott in der welligen Hügellandschaft des Blackmoor-Tals.

Eines Tages, als Jack beschwipst vom Markttag nach Hause wandert, setzt ihm ein ahnenforschender Pfarrer den Floh ins Ohr, er und die Seinen seien Abkömmlinge des edlen und untergegangenen d’Urberville-Geschlechtes.

Das gefällt Jack, der als Hausierer und Landarbeiter sein Dasein fristet. Innerlich erhöht, lässt er sich nach Hause kutschieren, um den Seinen von der vornehmen Abstammung zu berichten.

Derweil nimmt seine älteste Tochter, die sechzehnjährige Tess, am Maitanz der Dorfgemeinde teil. Drei zufällig vorbei wandernde Brüder, Studenten, sehen dem Reigen der weißgekleideten Mädchen zu. Der Jüngste, Angel, mischt sich unter die Tanzenden. Er nimmt die bildhübsche Tess kaum wahr, aber sie ist von ihm und seiner gewählten Ausdrucksweise tief beeindruckt.

Tess

„Tess Durbeyfield war zu dieser Zeit ihres Lebens wie ein Gefäß, das nichts als Gefühle enthielt, frei von jeglicher Erfahrung.“

Seite 17 aus Thomas Hardy, „Tess“, Roman, 572 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz, mit einem Nachwort von Dorothee Birke, 2020, dtv, München.

(Bild rechts von Prettysleepy/Pixabay)

Zuhause erwartet Tess die alltägliche Tristesse und Armut. Ihre Mutter Joan, eine einfache und oberflächliche Frau, erzählt ihr von der neu entdeckten Abstammung. Und dass der herzkranke Vater seine Freude im Wirtshaus begießt. Die Mutter will den Vater holen und wie so oft, selbst etwas trinken.

So kommt es, dass der Vater in jener Nacht seinen Rausch ausschlafen muss und nicht zum Markt fahren und die Bienenkörbe verkaufen kann. Tess erbietet sich, mit ihrem jüngeren Bruder Abraham zu fahren. Unterwegs stoßen die auf dem Kutschbock eingeschlafenen Geschwister mit einem anderen Fuhrwerk zusammen und ihr Pferd Prinz wird getötet. Ein herber Verlust für die Familie, der ihre Existenz gefährdet. Und – wie sich herausstellen soll – ein Einschnitt, der Tess‘ Leben zerstören wird.

Wegen ihrer Schuldgefühle am Tod des Pferdes gibt Tess dem Drängen ihrer Mutter nach und erklärt sich bereit, zum Anwesen einer gewissen Mrs. d’Urberville in Tantridge zu gehen. Dort soll sie sich der reichen Witwe als Verwandte vorstellen.

Tess trifft in Tantrige zuerst auf Alec d’Urberville, den Sohn der vermeintlichen Tante (was niemand von den Durbeyfields ahnt: der Titel wurde vom verstorbenen Oberhaupt der Kaufmannsfamilie Stoke nur gekauft). Alec gefällt Tess‘ außergewöhnliche sinnliche Schönheit und naive Frische und so stellt er sie als Geflügelmagd ein.

Alec d’Urberville ist ein gewissenloser Lebemann, er macht seiner „Cousine“ zudringlich den Hof. Tess weist jedoch jeden seiner Annäherungsversuche ab. Eines Nachts, nach einem Tanzvergnügen, gerät Tess mit einer früheren Geliebten Alecs handgreiflich aneinander und Alec d’Urberville rettet sie aus dieser misslichen Lage.

Er nimmt sie mit auf seinem Pferd, um sie nach Hause zu bringen. Doch sie verirren sich und Alec lässt Tess auf einem Blätterhaufen ruhen, während er nach dem Weg sucht. Als er zur Schlafenden zurückkommt, beugt er sich über sie und… :

Tess

„Warum es geschehen musste, dass auf diesem schönen weiblichen Gewirk, zart wie Gaze und bis dahin weiß wie Schnee, ein so grobes Muster eingeprägt wurde, […]; warum so oft das Grobe auf diese Weise von dem Feinen Besitz ergreift – […] -, haben viele tausend Jahre analytischer Philosophie nicht geschafft, unserem Ordnungsbewusstsein klarzumachen.“

Seite 105/106 aus Thomas Hardy, „Tess“, Roman, 572 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz, mit einem Nachwort von Dorothee Birke, 2020, dtv, München.

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Wurde Tess nun vergewaltigt oder hat sie sich in einem schlaftrunkenen Moment hingegeben? Genau erfahren wir es nie, später einmal macht Tess ihrer Mutter den Vorwurf, von ihr nicht aufgeklärt worden zu sein – ein Hinweis auf Hingabe?

Nach diesem Vorfall hält Tess es nur noch eine kleine Weile in Alecs Gegenwart aus, dann verlässt sie Tantridge. Zuhause macht ihr die Mutter heftige Vorwürfe, Alec nicht dazu gebracht zu haben, sie zu heiraten.

Tess bringt einige Monate später einen schwächlichen Jungen zur Welt, der nicht lang überlebt. Sie tauft und begräbt ihr Kind selbst, ihre Familie und die Kirche zeigen keine Milde oder Barmherzigkeit und helfen nicht.

Fast drei Jahre später verlässt die zwanzigjährige Tess das Dorf Marlott und ihr Elternhaus und verdingt sich als Melkerin auf dem Milchbauernhof der Familie Crick in Talbothays. Und hier trifft sie Angel wieder, den jungen Mann, der ihr beim Maitanz in Marlott aufgefallen war.

Angel Clare ist der Sohn eines Pfarrers in Emminster. Er will nicht wie sein Vater und seine Brüder Geistlicher werden, sondern hat sich der Landwirtschaft verschrieben. Um Landbesitzer in England oder in Übersee zu werden, lernt er bei den Cricks, wie man Milchviehwirtschaft betreibt – eine Station auf seiner Ausbildungs-Tour.

Einige junge Melkerinnen sind in ihn verliebt, aber Angel hat nur Augen für Tess, er schätzt ihren Wissensdrang, ihre unverbildete Philosophie, er genießt es, sie zu belehren. Tess verehrt ihn wegen seiner Sanftheit, Höflichkeit und Bildung, sie verliebt sich in ihn.

Es dauert eine Weile, bis Tess ihm ihre Gefühle gesteht und einer Heirat mit ihm zustimmt, zu schwer lastet ihre „Schuld“ auf ihr. Sie versucht, Angel ihre Vergangenheit zu „beichten“, er will es vor der Hochzeit gar nicht hören. In ihrer Not schreibt Tess ihm einen Brief, doch der landet versehentlich unter dem Teppich und nicht bei Angel.

Am Abend des Hochzeitstages gesteht Angel seiner Tess einen Fehltritt mit einer älteren Frau, der ihm als moralischer Mann, der Tugend über alles schätze, nicht hätte passieren dürfen. Er bittet Tess um Vergebung, die sie ihm gewährt. Jetzt fasst Tess ihren ganzen Mut zusammen und erzählt von ihrem Erlebnis mit Alec und von ihrem Kind. Auch sie bittet Angel um Vergebung, muss aber erkennen, dass ihr Mann dazu nicht fähig ist:

Tess

„Verzeihung ist auf diesem Fall nicht anzuwenden. Du warst eine Person, und nun bist Du eine andere. Mein Gott – wie kann Vergebung einer solchen grotesken – Gaukelei gerecht werden.“

Seite 326 aus Thomas Hardy, „Tess“, Roman, 572 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz, mit einem Nachwort von Dorothee Birke, 2020, dtv, München.

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Angel trennt sich von Tess. Sie kehrt zurück nach Marlott, er geht nach Brasilien. Zwar versorgt er Tess mit Geld für ein Jahr, verbietet ihr aber, ihm zu schreiben, es sei denn, sie wäre in größter Not.

Nur ein paar Monate bleibt Tess bei ihren Eltern. Da sie ihnen fast all ihr Geld gegeben hat und Angels Eltern nicht belästigen möchte, sucht sie sich Arbeit. In Flintcomb-Ash schuftet sie den Herbst und Winter über hart auf den Äckern, ein anstrengendes und entbehrungsreiches Leben.

Durch einen unglücklichen Zufall trifft sie Alec d‘ Urberville wieder. Er hat sich vom Saulus zum Paulus gewandelt und zieht als Prediger durch die Lande. Diese Verwandlung hält jedoch nicht lange an, er begehrt Tess mehr denn je und will sie haben. Mal droht er ihr, mal schmeichelt er ihr. Tess hält den hartnäckigen Attacken genauso hartnäckig stand. In ihrer Not schreibt sie an Angel, erhält jedoch keine Antwort.

Denn Angel ist in Brasilien schwer an Gelbfieber erkrankt und kämpft um sein Leben. Als er nach England zurückkommt und nach Tess sucht, ist es zu spät. Tess lebt mit Alec zusammen, sie zahlt den Preis dafür, dass er seit dem Tod ihres Vaters ihre Familie unterstützt.

Angel findet Tess im Seebad Sandbourne – sie schickt ihn weg. Es sei zu spät für sie beide, sie gehöre nun Alec. Angel geht, gebrochen und benommen, denn er hat seine Schuld an dieser schrecklichen Situation erkannt.

Die Begegnung mit ihm lässt Tess aus ihrer inneren Erstarrung erwachen und ihren Hass auf Alec auflodern. Mit einer Verzweiflungstat befreit sie sich von ihrem Peiniger und läuft Angel nach. Doch den Liebenden ist nicht mehr viel gemeinsame Zeit vergönnt…

Tess
(Bild von Gordon Johnson/Pixabay)

„Tess“ – mein Fazit

Thomas Hardys Roman „Tess“ ist ein wunderbares Werk mit vielen Facetten und Aspekten. Die bildhaften und detaillierten Beschreibungen der Natur, der Licht- und Wetterverhältnisse unterlegen wie eine Hintergrundmusik Tess‘ jeweilige Befindlichkeit.

Ganz begreifen oder eintauchen in Tess Seele können wir nicht, obwohl wir ihren Leidensweg mit ihr gehen. Wir bleiben Beobachter und ein wenig distanziert.

Trotz all ihrer inneren Stärke und Reinheit kann Tess ihr Schicksal nicht zum Guten wenden, es scheinen verhängnisvolle Schicksalsmächte am Werk zu sein, die immer wieder eingreifen, um Tess ins Verderben zu führen. Sie selbst spürt in den seltenen Stunden des Glücks, dass im Hintergrund ihre Schuld, ihre Scham und große Verzweiflung lauern, sie kann sich von ihrer Vergangenheit nicht befreien.

Das würden die gesellschaftlichen und christlichen Normen der viktorianischen Ära ja auch gar nicht zulassen. Und ihre große Liebe Angel ist zu befangen in seinen verkrusteten Moralvorstellungen und der vermeintlichen „Überlegenheit“ des männlichen Geschlechts. Als er seine Lektion gelernt hat und umdenkt, ist es zu spät.

Über die Fragen der viktorianischen Moral und Ethik hinaus beschäftigt sich Thomas Hardy in „Tess“ auch mit dem Umbruch der Epoche durch die Industrialisierung, die zu Ängsten, Entfremdung und einer neuen Gesellschaftsordnung führte. In das Wessexer Landleben halten die Dampfmaschinen Einzug – auf Flintcomb-Ash werden Tess und ihre Kolleginnen mit einer Dreschmaschine konfrontiert, die ihnen Arbeitstempo und -rhythmus aufzwingt und die sie als bedrohlichen „Tyrannen“ empfinden. Natur versus Technik.

Heute wissen wir, dass dies nur der Auftakt zu einer großflächigen und tiefgreifenden Umstrukturierung und Arbeitsplatzverlusten in der Landwirtschaft war. Und Thomas Hardy wusste es auch, beschreibt er doch die Dreschmaschine als ein „noch umherwanderndes Phänomen“ (S. 466″), ein Hinweis, dass dieses Phänomen sich bald fest etablieren wird.

„Tess“ ist ein bemerkens- und lesenswerter Roman, er vereint Poesie und Grausamkeit, kurze Glücksmomente und permanente Bedrohung, Mut und Scheitern. Der viktorianische Autor Thomas Hardy stellt sich eindeutig auf die Seite der Frau – wohl wissend, dass das im ausgehenden 19. Jahrhundert noch ein Tropfen auf dem heißen Stein, ein „drop in the ocean“, ist.

Mein Tipp: lest auf jeden Fall auch das Nachwort von Dorothee Birke, es lohnt sich!!!!

Tess
(Bild von Gordon Johnson/Pixabay)

„Tess“ – mein Lese-Exemplar

Thomas Hardy, „Tess“, (OT: „Tess of the d’Urbervilles“), Roman, 572 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz, mit einem Nachwort von Dorothee Birke, 2020, dtv, München.

„Tess“ – Quellen und Weblinks

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