»Kein öffentliches Geschäft irgendwelcher Art konnte je erledigt werden ohne die Einwilligung des Circumlocution Office. Sein Finger war in der größten öffentlichen Pastete ebenso wie in der kleinsten öffentlichen Torte. Es war ebenso unmöglich, das offenbarste Rechte zu tun, als das offenbarste Unrecht zu vereiteln – ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Circumlocution Office.«
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 106.
Inhalt
The Circumlocution Office – eine Behörde der besonderen Art
The Circumlocution Office: Anno 1857 entworfen, erbaut und ausgestattet von Charles Dickens und in seinen Roman »Little Dorrit«[1] integriert, arbeitet die Behörde immer noch und wird wohl bis in alle Ewigkeit bestehen – auf jeden Fall so lange es Menschen gibt! Da bin ich mir sicher und Charles Dickens war es wohl auch.
Behörden und Akten, Gesuche und Bewilligungen, kurz gesagt: der Stempel der Obrigkeit, sind etwas zutiefst Menschliches und somit zeitlos.
(Bild links: Gerd Altmann/Pixabay)
Es muss ja alles seine Ordnung haben, oder? Ich erinnere mich noch an die Vorbereitungen für unsere Hochzeit in Baden-Württemberg. Es galt für mich als gebürtige Nordrhein-Westfälin eine große Hürde zu nehmen: Das Standesamt hier wollte partout nicht meine Geburtsurkunde anerkennen – solch ein Formular hätte man noch nie gesehen und könne es somit nicht akzeptieren. Es gab ein ewiges Hin und Her, ich musste mehrmals Gebühren für Ausstellungen und Beglaubigungen von mal wieder nicht passenden Formularen bezahlen, bis sich die zuständigen schwäbischen und westfälischen Sachbearbeiter einigen konnten.
Zugegeben, im Circumlocution Office in London im 19. Jahrhundert wäre die Sache noch mehr verkompliziert worden, vermutlich wäre es niemals zur Hochzeit gekommen, denn:
»Eine Menge Menschen verlor sich in dem Circumlocution Office. Unglückliche, denen ein Ungemach widerfahren, oder die Pläne für das allgemeine Wohlsein hatten […], die dann im langsamen und peinlichen Verlauf der Zeit den Weg durch andere öffentliche Bureaus gemacht […], bis sie zuletzt an das Circumlocution Office gewiesen wurden und nie mehr ans Tageslicht kamen. Es wurden Sitzungen ihretwegen gehalten, Sekretäre nahmen Protokolle auf, Unterhändler plauderten für sie, Schreiber registrierten, notierten, buchten und schrieben sie ein – und damit waren sie verschwunden.«
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 107/108.
So, das vermittelt einen ersten Eindruck von der Arbeitsweise und Macht des Circumlocution Office –
der »Hokus-Pokus-Maschinerie«, dem »Amt für Umschweife« [2], dem »Umschreibungsamt«, dem »Labyrinth für Formulare« und dergleichen passende Ausdrücke mehr.
(Bild rechts: Hans/Pixabay)
Dickens widmet der Darstellung dieser Institution und ihrer Verwalter in »Little Dorrit» immerhin gute dreieinhalb Seiten!
The Circumlocution Office – was und wer alles dahinter steckt
Dickens spöttisch-heitere Auslassungen fußten auf einem realen und tragischen Hintergrund: Dem Krimkrieg, in dessen Verlauf von 1853 bis 1856 tausende britische Soldaten auch wegen der militärischen Inkompetenz ihrer Befehlshaber ums Leben kamen, wie z.B. in der Schlacht von Balaklava 1854 [3]. Oder als Verwundete sterben mussten, weil aufgrund der gängigen »Vetterleswirtschaft« Menge und Art des Nachschubes unzureichend und mangelhaft war.
Nicht nur Offiziersstellen und Verwaltungsposten bei der britischen Armee waren dem geburtsmäßigen Recht, dem Einfluss und dem Geld des Adels vorbehalten, das Prinzip galt genau so für politische Ämter und Regierungsbehörden, die Dickens mit seinem Circumlocution Office gleichfalls aufs Korn nahm:
»Was auch zu tun war, das Circumlocution Office war stets allen öffentlichen Verwaltungen in der Kunst zu entscheiden, wie mans nicht machen müsse, voran. […]
Es ist klar, dass wie mans nicht machen müsse das große Studium und die große Aufgabe aller öffentlichen Beamten und Staatsmänner von Fach rings um das Circumlocution Office war. […]
Es ist klar, dass von dem Augenblick an, da eine allgemeine Wahl vorüber war, jeder Heimkehrende, der auf der Wahlbühne gewütet, weil etwas nicht geschehen, und der die Freunde des ehrenwerten Gentleman der Gegenpartei […] gefragt (hatte), warum es nicht getan worden (sei), und der versicherte, dass es getan werden müsse und der sich verbürgt, dass es getan werden solle, zu überlegen begann, wie mans nicht machen könne.«
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 106.
Charles Dickens, dem oft vorgeworfen wurde und wird, kein politischer Mensch und Schriftsteller zu sein, wusste genau um die ewig gültige Wahrheit, dass die Versprechungen vor der Wahl nach der Wahl vergessen sind,
kurz gesagt: um die politische Tradition des »Was schert mich mein Geschwätz von gestern«! Und die ist nicht auf Großbritannien und nicht auf das 19. Jahrhundert beschränkt…
(Brigitte Werner/Pixabay)
Und Dickens hatte vermutlich in seiner Zeit als Gerichts- und Parlamentsreporter zur Genüge Menschen kennengelernt, die mit dem Schicksal anderer jonglieren. Sein Circumlocution Office wird vom Clan der Barnacles geleitet, angeführt von Familienoberhaupt Tite.
Im Englischen ist »barnacle« die Bezeichnung für »Seepocke«. Diese im Meer lebenden Rankenfußkrebse waren eine Gefahr für Schiffe, siedelten sie sich doch gern an den Holzrümpfen an und konnten das Schiff zum Sinken bringen [4].
Dickens schreibt über die »Seepocken« seines »Hokus-Pokus-Ministeriums«:
»Die Linie Tite Barnacle glaubte namentlich verbriefte Rechte in dieser Richtung zu haben und nahm es übel auf, wenn eine andere Familie viel darin zu sagen hatte. Die Barnacles waren eine sehr hohe und sehr große Familie. Sie waren über alle Bureaus verbreitet und hatten alle Art von öffentlichen Stellen im Besitz. Entweder hatte die Nation große Verpflichtungen gegen die Barnacles oder hatten die Barnacles große Verpflichtungen gegen die Nation. Man konnte nicht entscheiden, was wirklich der Fall war: Die Barnacles hatten ihre Ansicht, die Nation die ihrige.«
Dickens, Charles, Klein Dorrit, Bd. 1, Altenmünster, 2016, S. 109.
Die Barnacles haben sich nicht nur im Circumlocution Office festgesaugt, nein, auch im Parlament und in der Gesellschaft. Ihr Schalten und Walten können sie somit auf jeder Ebene erfolgreich rechtfertigen, sie sitzen fest im Sattel.
(Bild rechts: David Krüger/Pixabay)
Obwohl das Schuldenverfahren gegen William Dorrit dort so tief begraben wurde, dass er für 30 Jahre im Marshalsea schmort und Daniel Doyce es nicht schafft, dass sein Patent bewilligt wird, lässt Dickens die Behörde unangetastet,
wie es derlei Institutionen in der Realität meistens bleiben…
Das war es von meiner Seite über das Circumlocution Office, weitaus mehr darüber findet ihr natürlich in Charles Dickens‘ Roman »Little Dorrit».
The Circumlocution Office – Leseempfehlung (Werbung)
Falls Ihr Euch für Themen dieser Art interessiert, kann ich Euch den britischen Historiker und Publizisten Cyril Northcote Parkinson (1909-1993) empfehlen. Er hat sich recht ironische Gedanken über Bürokratie und Verwaltungen [5] gemacht, sein Humor steht dem seines Landsmannes Charles Dickens in nichts nach!!
C. Northcote Parkinson, »Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung«, deutsch, 160 Seiten, Hardcover, gebraucht, Verlagsanstalt Handwerk, 2005.
Es gibt auch eine Schnelldurchlauf-Variante: »Parkinsons Gesetz: Die Tücken der Bürokratie (Management und Marketing)«, deutsch, 56 Seiten, Business 50MINUTEN.de (Copyrighted Material), 2018.
The Circumlocution Office – Quellen und Weblinks
[1] »Little Dorrit« von Charles Dickens wurde bereits am Freitag, den 3. Februar 2023, auf Meine Leselampe vorgestellt -> https://www.meineleselampe.de/little-dorrit-charles-dickens-1857/.
[2] Diese nette Definition stammt von Reverso Context -> https://context.reverso.net/%C3%BCbersetzung/englisch-deutsch/Circumlocution+Office, abgerufen am 3.2.2023. Folgende Bedeutung kann man aus dem Lateinischen ableiten: circum = um…herum; Kreis, Ring -> https://www.frag-caesar.de/lateinwoerterbuch/locutio-uebersetzung.html und locutio = Redensart -> https://www.navigium.de/latein-woerterbuch/circum. Beides abgerufen am 10.2.2023.
[3] Vgl. Welt/Geschichte, »Großartig, aber Krieg ist das nicht, es ist Wahnsinn«, Autor Berthold Seewald, 25.10.2017, online -> https://www.welt.de/geschichte/article170035291/Grossartig-aber-Krieg-ist-das-nicht-es-ist-Wahnsinn.html, abgerufen am 10.2.2023.
[4] Vgl. Wikipedia, Seepocken, Wikipedia-AutorInnen, 14.12.2022, online -> https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Seepocken&oldid=228837781, abgerufen am 10.02.2023.
[5] Vgl. Wikipedia, Parkinsonsche Gesetze, Wikipedia-AutorInnen, 13.9.2022, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Parkinsonsche_Gesetze&oldid=226128768, abgerufen am 10.2.2023.