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Viktorianische Rache (Teil 2.2) – Einführung
Vier britische Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts zeigen in ihren Kurzgeschichten, wie ihre Versionen von viktorianischer Rache aussehen.
Louisa May Alcott und Elizabeth Gaskell mit „Paulines Leidenschaft und Strafe“ und „Die Rache der Griffiths“ habe ich Euch bereits vorgestellt, heute folgen Mary Elizabeth Braddon: „Samuel Lowgoods Rache“ und Mrs. J.H. Riddell: „Nemesis an der Themse“.
Gefunden habe ich die Erzählungen über viktorianische (und moderne) Rache in „Das neue große Frauen Lesebuch“ (genaue Angaben siehe unter „Quellen und Weblinks“).
Viktorianische Rache – „Samuel Lowgoods Rache“
Inhalt
Samuel Lowgood und Christopher Weldon – unterschiedlicher von Herkunft, Aussehen und Charakter her können zwei junge Männer nicht sein.
Beide arbeiten in einer Reederei in Willborough, doch unter völlig unterschiedlichen Bedingungen.
Samuel, ein Waisenjunge, hat sich in elf harten Jahren vom Botenjungen zum Kontoristen hocharbeiten müssen.
(Bild links: Dimitri Houtteman/Pixabay)
Christopher, dem Sohn einer vermögenden Witwe, fliegt alles zu. Dank des Einflusses seiner Familie hat er die Anstellung im Kontor mühelos erhalten. Er ist gutaussehend, exquisit gekleidet und interessiert sich mehr für die schönen Dinge des Lebens als für seine Arbeit.
Das erregt Samuels Missgunst, die sich zum Hass steigert, als Christopher auch noch das Herz Lucy Maldens erobert, die mit ihrem blinden Vater auf dem Firmengelände lebt. Bis Christopher kam, hatte Samuel der jungen Frau den Hof gemacht. Nun geht Christopher statt seiner bei den Maldens ein und aus.
„Ich hasste ihn aus tiefstem Herzen. Ich hasste sein affiges Gehabe und seine hochmütigen Manieren; ich hasste sein hübsches Knabengesicht mit dem Kranz von blonden Locken […] . Aber am meisten hasste ich ihn wegen seiner Macht über Lucy Malden.“
Seite 190 aus „Samuel Lowgoods Rache“, Mary Elizabeth Braddon, in „Das neue große Frauen Lesebuch“, Goldmann Verlag 1992 (s.u.),
Eines Tages klagt Christopher im Kontor über eine hohe Schneiderrechnung, die er nicht bezahlen kann. Kurz darauf beobachtet Samuel, wie Christopher einen Scheck der Reederei fälscht und zur Bank bringt. Samuels Stunde ist gekommen, er löst den gefälschten Scheck mit seinem mühsam ersparten Geld aus und bewahrt ihn in seinem geheimen Tresor auf. Eines Tages wird er ihn nutzen, um Christopher bloßzustellen und zu demütigen, er wartet nur auf den passenden Moment für seine Rache.
Christopher macht in der Reederei Karriere, er wird in die Londoner Zweigstelle versetzt und erhält doppelt so viel Gehalt. Samuel bleibt, wo er war und verdient wie bisher. Die Nachricht von Christophers Weggang überbringt er Lucy Malden, die tief getroffen ist.
Zehn Jahre später hält Samuel, mittlerweile Kontor-Leiter in Willborough, um Lucys Hand an. Lucy willigt ein, seine Frau zu werden.
Beide leben in dem Stadthaus der Reederei, in dem Lucy mit ihrem mittlerweile verstorbenen Vater gewohnt hatte.
(Bild rechts: Noupload/Pixabay)
Christopher Weldon hat eine reiche Adelige geheiratet und ist zum Partner in der Kanzlei geworden. Eines Tages ziehen er und seine Frau zurück nach Willborough. Nun wird ihnen das Stadthaus der Reederei zugesprochen und die Lowgoods müssen in ungenutzte Büroräume ausweichen. Genug ist genug – Samuel sieht den Tag seiner Rache gekommen.
Auf Weldons Einstandsfeier, zu der Samuel eingeladen wurde, wird er den gefälschten Scheck der Öffentlichkeit präsentieren. Als er das belastende Dokument aus seinem Tresor holen will, ist es verschwunden… Einige Jahre später gesteht ihm seine Frau auf ihrem Sterbebett etwas Erstaunliches.
Fazit
Ein erstaunliches Geständnis, dem ein – auf den ersten Blick – erstaunliches Ende folgt. Dachte ich und werden sicher auch viele von Euch denken. Dann fiel mir ein altes Sprichwort ein: „Vergebung ist die süßeste Form der Rache“ (sorry, Spoiler-Alarm). Mehr sage ich dazu nicht, macht aber Sinn..
Diese viktorianische Rache-Kurzgeschichte von Mary Elizabeth Braddon ist hervorragend geschrieben, in einem ruhigen und doch fesselnden Fluss mit viel Tiefgang. Stilistisch gefällt mir die Autorin hier viel besser als in ihrem Roman „Aurora Floyd“ (1863) -> https://www.meineleselampe.de/aurora-floyd-kriminalroman-1863/, vielleicht liegt und lag es ja an der jeweiligen Übersetzung. („Samuel Lowgoods Rache“ wurde übrigens von Sabine Lohmann übersetzt).
Mir hat die Geschichte darüber, wie Hass und Neid das Leben vergiften und den Blick für die positiven Seiten der eigenen Lebensumstände trüben können, sehr gut gefallen. Die Erzählung hat mich angeregt, mehr von Mary Elizabeth Braddon zu lesen, was ich nach meiner Enttäuschung über „Aurora Floyd“ gar nicht vorhatte!
Viktorianische Rache – „Nemesis an der Themse“
Inhalt
Paul Murray steht unter der Herrschaft seiner Großmutter. Als müßiger Gentleman ist er von ihren Geldzuwendungen abhängig und muss hoffen, nach ihrem Tod ihr Vermögen zu erben. Bald schon soll er eine junge Dame ehelichen, die seine Großmutter für ihn ausgesucht hat.
Wir treffen ihn und seinen Freund Richard Savill an einem warmen Abend in einem ansonsten verregneten Sommer an der Themse bei Docking Point, nicht weit von London entfernt. Sie haben einen erholsamen Nachmittag verbracht und wollen sich gerade trennen, als ihnen ein junges Paar auffällt.
Das recht aufgeputzte und etwas gewöhnlich wirkende Mädchen wirft Murray und Savill einen kecken Blick zu. Das missfällt ihrem Begleiter, der feiner als seine Begleiterin wirkt, aber unter ihrem Pantoffel zu stehen scheint. Paul und Dick beobachten und kommentieren das Verhalten der beiden und sehen zu, wie sie in ein Ruderboot steigen.
Kurz danach trennen sich Paul und Dick. Ersterer will zu Fuß zum Bahnhof von Staines wandern, er ist auf einen Herrenabend eingeladen, am nächsten Tag soll er zu seiner Großmutter reisen und der von ihr „Auserwählten“ den Hof machen. Dick will noch ein wenig auf der Themse rudern und in einem Wirtshaus speisen.
Nach einer feucht-fröhlichen Gesellschaft erwacht Paul Murray recht verkatert am nächsten Morgen. Er hatte einen furchtbaren Alptraum, in dem ihn ein feuchtes und kaltes Gewicht zu erdrücken drohte.
Murrays Diener Davis betritt das Zimmer seines Herrn und sieht mit Entsetzen kleine, feuchte Fußabdrücke auf dem Teppich. Murray fallen sie auch auf – kurze Zeit später sind sie spurlos verschwunden.
(Bild links: Hans Braxmeier/Pixabay)
Im Themse-Tal sucht unterdessen die verzweifelte Mrs. Heath ihre Tochter Lucy, die am Vorabend von einem Spaziergang mit ihrem Verlobten Mr. Grantley nicht zurückgekommen ist. Walter Grantley kann der Mutter nicht weiterhelfen, er und Lucy hatten sich nach einem Streit während ihrer Bootspartie getrennt. Zwischen Dockett Point und Chertsey will er Lucy auf ihren Wunsch an Land abgesetzt haben. Seitdem hat niemand das Mädchen gesehen.
Paul Murray reist nach seiner Alptraumnacht zu seiner Großmutter, sein Diener Davis begleitet ihn und beobachtet, wie die feuchten Fußabdrücke Murray am Bahnhof und bis in den Zug hinein folgen. Murray hat ein Abteil für sich, Davis sitzt in einem einfacheren Abteil, hier hat er zufällig einen Kollegen und alten Bekannten von sich entdeckt.
Die beiden Diener plaudern, zufällig erfährt Davis, dass sein Kollege am Abend vorher Murray am Bahnhof in Chertsey gesehen haben will. Er wundert sich, was sein Herr dort zu suchen hatte.
Lange kann er nicht darüber nachdenken, denn Murray ruft ihn zu sich, sichtlich erschöpft und verängstigt. Wer oder was hat ihn in seinem Abteil heimgesucht?
(Bild rechts: Hans Braxmaier/Pixabay)
Einige Tage später wird die Leiche Lucys in der Themse gefunden. In einer Gerichtsverhandlung wird aus Mangel an Beweisen Tod durch Ertrinken festgestellt. Ihr Verlobter schien kurzfristig verdächtig, wurde aber durch Dick Savill entlastet, der an dem Abend von seinem Boot aus gesehen hatte, wie Lucy allein am Ufer spazierte und Walter Grantley zurück ruderte. Allerdings konnte bei den Befragungen nicht festgestellt werden, woher das Armband sowie einige Geldstücke stammen, die die Tote bei sich hatte.
Savill schickt die Zeitungsmeldung über die Gerichtsverhandlung seinem Freund Paul zu, Davis liest die Notiz auch und macht sich so seine Gedanken. Beim „Schnüffeln“ in den Papierkörben und Schubladen seines Herrn hatte er in den vergangenen Wochen unter anderem einen Tüllschleier und eine Rechnung über ein Armband gefunden – könnte er diese Funde und sein Wissen nicht in bare Münze für sich verwandeln?
Eine Woche vor Murrays Hochzeit offenbart Davis seinem Herrn sehr diskret seine Beobachtungen und erpresst einen Schuldschein in Höhe von zweitausend Pfund.
Murray wird immer elender, sein Herz ist geschwächt, seine Seele verfinstert. Schreckliche Träume, geisterhafte Stimmen und die Fußabdrücke quälen und verfolgen ihn auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau. Paul Murray findet keine Ruhe, er fühlt sich wie im Fieberwahn.
„…keine Teufelsbrut hätte einem Mann das Leben mehr zur Hölle machen können als jene kleinen, beharrlichen Füße, deren Abdrücke sich wie mit rotglühendem Eisen in Paul Murrays Herz brannten.“
Seite 266 aus „Nemesis an der Themse“, Mrs. J.H. Riddell, in „Das neue große Frauen Lesebuch“, Goldmann Verlag 1992 (s.u.),
Schließlich fährt Murray verzweifelt zurück. Er will seinem Schwiegervaters alles erzählen, schreckt im letzten Moment davor zurück. Im Park versucht er, zur Ruhe zu kommen und sich zu sammeln. Der Mut zur Beichte verlässt Murray, er beschließt, stattdessen einfach zu verschwinden. Plötzlich scheint ihm. als ob es um ihn herum dunkler würde…
Fazit
Von allen vier viktorianischen Rache-Geschichten ist „Nemesis an der Themse“ vom Aufbau her die raffinierteste. Eingestreute Andeutungen und unauffällige Indizien verdichten sich allmählich zu einem ungeheuren Verdacht – jedoch nur, wenn man „durch die Lupe“ liest und keine Zeile „mal schnell überfliegt“.
„Nemesis an der Themse“ beginnt mit einer idyllischen Beschreibung der Natur im Tal der Themse. Auf dieses harmonische und farbenprächtige Bild tupft Charlotte Riddell aber schon ein wenig von der düsteren Farbe des Unheimlichen, die sie im Verlauf der Handlung immer häufiger benutzt.
Riddell lässt uns nicht wirklich in das Innere Murrays blicken, die Gedankengänge seines Dieners Davis, Mrs. Heaths oder Walter Grantleys lernen wir weitaus besser kennen.
Faszinierend angelegt, spannend aufgebaut und wundervoll geschrieben – ich war beeindruckt und begeistert. Und froh, eine weitere hervorragende Schriftstellerin der viktorianischen Ära für mich entdeckt zu haben.
Alle vier viktorianischen Rachegeschichten sind lesenswert – die der neuzeitlicheren Autorinnen wie Ruth Rendell, Elizabeth Bowen, Kate Saunders, Muriel Spark und und und natürlich ebenfalls. Eine gut gelungene Auswahl!!
Viktorianische Rache – Quellen und Weblinks
- „Das neue große Frauen Lesebuch“, Anthologie, 409 Seiten (incl. Anmerkungen zu den Autorinnen), hrsg. von Kate Saunders (Originalausgabe „Revenge“, Virago Press, London), erscheinen 1992 im Goldmann Verlag, München
- zu Mary Elizabeth Braddon -> https://maryelizabethbraddon.com/
- zu Charlotte Riddell -> https://theblankgarden.com/2020/04/08/charlotte-riddell/