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„Viktorianischer Sonntag“ KW 34 – Einführung
Viktorianischer Sonntag – die Art, ihn zu praktizieren, war (nach dem, was ich bisher darüber gelesen habe) wohl noch langweiliger als die Sonntage in meinen Kinderjahren. Ich habe sie einfach nicht gemocht: vormittags ging es in die Kirche, dann gab es Mittagessen. Ein Mittagsschläfchen wurde gehalten, Kaffee getrunken, spazieren gegangen. Nach dem Abendbrot durfte ich zum Trost vor dem drohenden Montag (der war auch nix für mich) abends noch „Die Waltons“ im Fernsehen anschauen.
Mit anderen Kindern sonntags zu spielen war zu der Zeit ein No-Go, daher habe ich viel (und gern) gelesen oder mit Legosteinen oder sonst was gespielt. Aber als Einzelkind war ich eben immer allein unter Erwachsenen – gähn.
(Bild links: Open Clipart-Verctors/Pixabay)
Und einige Jahre später hielt ich es auch eher mit Kurt Tucholsky (dt. Journalist, Schriftsteller, 1890-1935), der gesagt haben soll: „Das Schönste am Sonntag ist der Samstagabend“.
Jetzt mag ich zwar den Sonntagvormittag, aber ab dem Mittagsessen verfalle ich in eine Art trübselige Lethargie – Sonntagnachmittage haben für mich nach wie vor eine merkwürdige Grundstimmung, auch wenn wir etwas Schönes unternehmen oder Besuch haben.
Doch wie sah es in England zu Zeiten Queen Victorias aus?
„Viktorianischer Sonntag“ KW 34 – Tristesse pur
Viktorianischer Sonntag – das hieß im 19. Jahrhundert, je nach Schicht und Gesinnung: ein- oder mehrmals zum Gottesdienst gehen.
(Bild rechts: Stefan Wiegand/Pixabay)
Die an Sonntagen praktizierte Frömmigkeit greift Anthony Trollope in „Miss Mackenzies Mut zu lieben“ (1865) auf:
„Er (Pfarrer Mr. Stumfold) versprach ihr (Miss Mackenzie), für sie einen Sitz in seiner Kirche zu finden und erzählte ihr, zu welcher Zeit die Gottesdienste stattfanden. Er hatte drei „Sabbath-Dienste“, aber er dachte, dass es allgemein genügte, wenn man regelmäßig zweimal jeden Sonntag hinging.“
Seite 39 aus Anthony Trollope, “Miss Mackenzies Mut zu lieben”, Roman, 442 Seiten, übersetzt von Dr. Charlotte Houben, erschienen 2019 (überarbeitete Fassung von 1994) im Rhein-Mosel-Verlag, Zell.
Natürlich speisten die wohlhabenden Viktorianer am siebten Tage gut und reichlich, machten ein Nickerchen, die sehr Frommen lasen in der Bibel oder anderen erbaulich-moralischen Werken.
Frau ging spazieren, Mann döste in seinem Club bei einem Portwein vor sich hin, las die Zeitung und Frau wie Mann zelebrierten natürlich zu gegebener Stunde die „Tea Time“.
(Bild links: Jill Wellington/Pixabay)
Agatha Christie (-> https://www.meineleselampe.de/agatha-christie-zum-geburtstag/), die noch in der viktorianischen Epoche geboren wurde, kannte die Traditionen eines viktorianischen Wochenendes aus ihrer Kindheit.
(Bild rechts: Alex Fox/Pixabay)
Christie beschreibt in ihrer Autobiographie einen typischen Familien-Sonntagnachmittag:
„Ein monumentaler Braten, dann Kirschtorte mit Sahne, ein Riesenstück Käse und schließlich Obst – serviert auf den schönsten Desserttellern, die man sich vorstellen kann. (…) Nach solch lukullischem Mahl wurde geschlafen. Omatante zog sich auf ihren Fauteuil vor dem Kamin zurück. Oma B. ließ sich auf dem weinfarbenen Ledersofa nieder, und über ihre gewaltigen Formen wurde ein Afgahn gebreitet.
Was die Onkel machten, weiß ich nicht. Kann sein, dass sie spazieren gingen, vielleicht zogen sie sich aber auch nur in den Salon zurück. (…) Nachdem alle außer mir zumindest eine Stunde fest geschlafen hatten – ich pflegte mich vorsichtig im Schaukelstuhl zu schaukeln – wurde „Schulmeister“ (eine Art Quiz) gespielt. (…)“
Seite 38/39 aus Agatha Christie, „Meine gute alte Zeit“, UT: Die Autobiographie einer Lady, aus dem Englischen von Hans Erik Hausner, 539 Seiten, 2. Auflage erschienen 2012 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
Noch heute mögen die Engländer ihren Sonntagsbraten, gern mit Yorkshire Pudding, Gemüse und Kartoffeln – ob zuhause zubereitet oder im Restaurant.
Zurück in die viktorianische Ära:
gepflegte und gesättigte Langeweile – so sah es bei der gut gestellten Mittelschicht aus, bei den Ärmeren fiel der Sonntag wesentlich entbehrungsreicher aus – kalte und karge Kost, keinerlei Möglichkeit, sich zu erfreuen oder erholen.
Eine literarische Beschreibung der viktorianischen Schriftstellerin Charlotte Brontë in ihrem Roman „Jane Eyre“ von 1847 wirkt auf uns heute sehr ernüchternd:
„Am trostlosesten waren die Sonntage in diesem Winter. Wir hatten zur Kirche von Brocklebridge zwei Meilen zu gehen. (…) Wir froren schon vor dem Weggehen, wir froren noch mehr in der Kirche und gegen Schluss des Gottesdienstes waren wir völlig erstarrt.
Es war zu weit, als dass wir mittags hätten zu Hause sein können. So bekamen wir etwas kaltes Fleisch und Brot mit, aber viel zu wenig für unseren Hunger. (…) Ein kleiner Trost ward uns zur Teezeit, denn da erhielten wir eine doppelte Brotration, ein ganzes Stück statt eines halben, und ein kleines Stück Butter dazu.“
Seite 54 aus Charlotte Brontë, „Jane Eyre“, UT: Die Waise von Lowood“, Roman, 270 Seiten, übersetzt von Hertha Lorenz, erschienen 1961 im Eduard Kaiser Verlag, Klagenfurt.
Dickens beklagte 1855 in seinem Roman „Little Dorrit“, dass alles, was einem von der Arbeit ermüdeten Volk Erholung bieten könnte, Sonntags verschlossen und versperrt sei.
„Viktorianischer Sonntag“ KW 34 – mein Lese-Exemplar: „Little Dorrit“, 2 Bände (Die Armut, Der Reichtum), illustrierte Ausgaben, übersetzt von Carl Kolb, 412 und 442 Seiten stark, erschienen 2015, Jazzybee Verlag Jürgen Beck, Altenmünster. Kostet pro Band 12,99 Euro.
(Bild links: ArcturianKimona/Pixabay)
Durch die Bank beschrieben die SchriftstellerInnen des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein den britischen Sonntag als langweiligen, von puritanischen Traditionen geprägten Tag.
Das hat sich mittlerweile geändert, Läden und Pubs dürfen (seit 1994) sonntags öffnen und tun es zumindest in London (sofern gerade kein Lockdown ist), Sportveranstaltungen finden statt, etc.. Moderne Zeiten eben.
„Viktorianischer Sonntag“ KW 34 – gegen die Tristesse
„Viktorianischer Sonntag“ lautet der Name meines neuen Projektes, mit dem ich eventuelle sonntägliche Missstimmungen oder Anflüge von Langeweile vertreiben möchte.
Das heißt, auf Meine Leselampe gibt es ein bisschen Klatsch und Tratsch aus der guten alten Zeit, Berichte über skandalöse, kluge, erfinderische oder anderweitig bemerkenswerte Persönlichkeiten der viktorianischen Ära, Zitate, Artikel, Buch- und DVD-Tipps…
Die Posts werden zunächst in loser Reihenfolge kommen – nicht immer stößt man auf außergewöhnliche Anregungen.
Heute gab es eine kleine Einführung in mein Anliegen – ich würde mich freuen, wenn wir uns künftig öfter an einem Sonntag lesen würden!!
„Viktorianischer Sonntag“ KW 34 – Quellen und Weblinks
- Der englische Sonntag – gestern und heute -> https://www.tagesspiegel.de/kultur/britischer-sonntag-am-siebten-tage-sollst-du-shoppen/611872.html
- Buchvorstellungen auf Meine Leselampe zu den oben erwähnten Zitaten -> https://www.meineleselampe.de/miss-mackenzie/ und -> https://www.meineleselampe.de/jane-eyre-1/ sowie https://www.meineleselampe.de/jane-eyre-2/