Viktorianischer Sonntag KW 37
Viktorianischer Sonntag KW 37 widmet sich dem Charme alter Bücher, sprich: der Bücher aus zweiter, manchmal dritter, vierter Hand. Ich habe mal auf Meine Leselampe geschrieben (irgendwo auf diesem Blog), dass manche Bücher, die zeitweise auf Flohmarktständen ausliegen oder in den Schränken der Antiquariate oder in Öffentlichen Bücheregalen „wohnen“, sich ihre LeserInnen aussuchen.
So ergeht es mir zumindest sehr oft – viele viktorianische Romane haben mich an diesen magischen Orten entdeckt (und ich sie, das passiert stets im gleichen Augenblick). Und was mich an den gebrauchten Werken fasziniert: die Geschichten der VorbesitzerInnen, die anhand ihrer Widmungen, Einträge oder Ex Libris in meinem Kopf entstehen. Sie sind mit leiser Wehmut gemischt, denn an vielen Daten erkennt man, dass er/sie jetzt, in meiner Zeit, wohl nicht mehr lebt.
Viktorianischer Sonntag KW 37 – Vom Charme alter Bücher: von außen betrachtet sind es nur gebrauchte Bücher, aber sie haben eine Vorgeschichte, eine Seele, die man bei einigen Exemplaren herauslesen kann…
Oder ich befürchte ein tragisches Ereignis, so wie neulich, als einige angesengte Bücher im Öffentlichen Bücherregal standen. Eins davon habe ich mitgenommen, Oscar Wildes „De Profundis“. Als ich das Buch aufschlug, las ich gleich vorne die Worte: „Alles Liebe zum Geburtstag wünscht Dir Dani – Juni ’91“.
Was ist seitdem passiert?
Viktorianischer Sonntag KW 37 – Vom Charme alter Bücher: ein Wohnungsbrand, kam die/der Beschenkte zu Schaden? Hat sie/er große Verluste erlitten? Was ist überhaupt aus der Schenkenden und der/dem Beschenkten geworden? Wurde ihr Leben so, wie sie es sich erträumt hatten?
In Band 1 Victor Hugo „Die Elenden“ ist mit zittriger Hand und in altmodischer Schrift geschrieben zu lesen: „Zum Weihnachtsfest gewidmet von Deiner Schwester Hildegard – 1945“. Das macht mich so traurig, denn das Buch aus dem Verlag „Volk und Welt“ ist ja erst 1965 erschienen. War die alte Dame vielleicht schon leicht verwirrt?
Oder hat sie die Zeilen erst viele Jahre später hineingeschrieben, um sich daran erinnern zu können, dass sie es einst ihrer mittlerweile verstorbenen Schwester geschenkt hat? Ja, und hat sie sich dabei im Datum vertan? Das ist wohl eher unwahrscheinlich, mehr so meine labyrinthische Art des Denkens….
Am meisten rührt mich das Exemplar Charles Dickens „The Old Curiosity Shop“ vom britischen Verlag Macdonald Illustrated Classics.
„To Dearest Jill“, „From Ruth and Ken“, „X’mas 1952“ steht ganz vorne. Zusätzlich gibt es noch ein ganz putziges, auf uns heute altmodisch wirkendes Lesezeichen mit rotem Wollbändchen und auch noch einmal mit handschriftlicher Widmung auf der Vorderseite: „A Very Happy X’Mas & New Year To Jill From Ruth & Ken XX“. Auf die Rückseite wurde geschrieben: „Dearest Jill, I hope you like the Book Ken“.
Diese Buch wurde allem Anschein nach mit viel Liebe verschenkt – waren Ruth und Ken die Eltern von Jill oder Tante und Onkel, Schwester und Schwager (oder umgekehrt), es ist so persönlich und liebevoll und es war den beiden sehr wichtig, dass der von ihnen ausgewählte Dickens-Roman ihrer Jill gefällt. Ich weiß nicht, ob Jill das Buch besonders gemocht hat, das kleine Lesezeichen steckte zwischen Seite 214 und Seite 215, beim Anfang von Chapter XXVI. Zufall?
Viktorianischer Sonntag KW 37 – Vom Charme alter Bücher: links oben auf meinem Foto ist das Buch mit der Widmung der „alten Dame“, rechts liegt das von Ruth und Ken mit dem Lesezeichen, zu dem Buch unten/mittig komme ich noch.
Oder ist es tatsächlich von Jill dort belassen worden, als sie keine Lust mehr hatte, weiter zu lesen? Weiter hinten, zwischen Seite 330 und Seite 331, liegt noch mal ein blaues Wollband im Buch – mmh?
Gibt es Ruth, Ken und Jill noch? Lesen sie noch gern Dickens-Romane? Wo in England – ich bin mir sicher, dass ihr Heimatland England ist und nicht die USA – leb(t)en sie? Wie kam das Buch von England hierher, ins Öffentliche Bücherregal eines Stuttgarter Stadtteils?
Herr T. D. Grodijek lebt nicht mehr, dass ist sicher. Ihm gehörte ein Exemplar von W. M. Thackerays „Das Snobsbuch/Die vier George“. In die Innenseite des vorderen Buchdeckels hat er sein Ex Libris geklebt und auf den ersten beiden Seiten zusätzlich noch einmal Autor und Titel sowie seinen eigenen Namen und das Datum: 3.IV.1901 in schwarzer Tinte vermerkt. Ach ja, wie hat Herrn Grodijek das Buch gefallen? Mich hat es begeistert, 120 Jahre nach ihm… (könnt Ihr unter diesem Link auf Meine Leselampe nachlesen -> https://www.meineleselampe.de/die-vier-george/).
Vor einigen Jahren habe ich einen Zeitungsartikel über ein sehr sympathisches älteres Ehepaar gelesen, dass seine große Büchersammlung mit wunderschön gestalteten Ex Libris versehen hat. Sie sagten, auf diese Weise möchten sie eine Art „ewiges Leben“ erlangen – wenn sie nicht mehr seien, blieben ihre Bücher mit ihren Namen.
Eine wunderbare Idee, ich habe auch noch viele Jugendbücher meiner Großmutter und meiner Mutter, mit Widmungen ihrer Freundinnen, Tanten oder Mütter. Wie ihre Leben verlaufen sind, weiß ich und leider auch, dass sie nicht mehr sind. Aber ich werde sie und viele Lebens-Ereignisse, die sie mir von sich erzählt haben oder die ich miterlebt habe, nicht vergessen, manchmal reicht schon der Blick auf die erste Seite in einem ihrer Bücher.
Anmerkung: alle Namen, die ich in diesem Beitrag nenne, sind frei erfunden, die wahren Namen in meinen gebrauchten Exemplaren nenne ich natürlich nicht!!! Daher sind auch die Fotos nicht so scharf...
Viktorianischer Sonntag KW 37 – Quellen und Weblinks
- was sind Ex Libris? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Exlibris