Viktorianisches Halloween 2

Viktorianisches Halloween 2 – Einleitung

Viktorianisches Halloween 2 – nach Bram Stokers „Die Dualisten oder der Todesfluch der Zwillinge“ -> https://www.meineleselampe.de/viktorianisches-halloween-1/ folgt der zweite Streich. Die Erzählungen, die ich für dieses Halloween ausgesucht habe, stammen alle aus „Das vierte Buch des Horrors“.

Charlotte Perkins Gilmans (1860-1935) Kurzgeschichte „Die Gelbe Tapete“ (OT: „The Yellow Wall Paper“) aus dem Jahre 1892 hat mich sehr beeindruckt. Die autobiographische Züge des Textes haben mich sehr nachdenklich gemacht und ich möchte mich auf Meine Leselampe zu einem anderen Zeitpunkt noch ausführlicher mit der Autorin und amerikanischen Frauenrechtlerin beschäftigen. Ihr Leben scheint mir ein Beispiel für die unterdrückte Rolle der Frauen des 19. Jahrhunderts.

Und der Horror in „Die Gelbe Tapete“ liegt in eben jener Unterdrückung – lest selbst.

Viktorianisches Halloween 2 – zur Erzählung

Eine junge Frau schreibt in ihr Tagebuch… Sie und ihr Mann John haben für die Sommermonate ein Gutshaus im Kolonialstil gemietet, umgeben von einem herrlichen Park mit Bäumen und Sträuchern.

Das klingt nach heiterer Ferien-Idylle, aber schnell wird klar, dass die junge Ehefrau und Mutter sich hier von Depressionen und einer „leichten Neigung zur Hysterie“ erholen soll.

Ihr Mann, ein bekannter Arzt und ihr Bruder, ebenfalls ein bekannter Arzt haben das diagnostiziert – die Frau dagegen fühlt sich wirklich krank, aber: „was soll man machen?“.

Sie muss nun ausruhen, viel essen, spazieren gehen, schlafen. Gesellschaft um sich haben oder gar in ihr Tagebuch schreiben darf sie nicht. Doch heimlich, wenn ihr Mann in der Stadt seiner Arbeit nachgeht, schreibt sie über ihre Gefühle, ihre Eindrücke von ihrer Umgebung. So erfahren wir, dass ihr das Haus unheimlich ist, dass irgendetwas vorgeht…

Als Schlafzimmer hat John für sich und seine Frau ein großes Zimmer im ersten Stock auserkoren, scheinbar das frühere Kinderzimmer. Der Raum gefällt ihr nicht, denn es hat vergitterte Fenster. Die ramponierte Bettstatt ist am Boden festgenagelt, der Fußboden zerkratzt und an manchen Stellen sogar zersplittert.

Viktorianisches Halloween 2

Die Wand wird von einer gelbe Tapete mit wirrem Muster geziert (seht auch Ihr die Gestalten hinter dem Muster?), die in Teilen schon zerfetzt und heruntergerissen ist.

(Bild links: Darkmoon Art/Pixabay)

„Im ganzen Leben habe ich keine scheußlichere Tapete gesehen. Dieses spinnenbeinige, grellfarbene Muster – eine Sünde wider jeden guten Geschmack. (…) Wenn man diesen lahmen, unsicheren Kurven ein Stück weit mit den Augen nachgeht, dann begehen sie plötzlich Selbstmord…fallen in unmöglichen Winkeln ab… (…). Auch die Farbe ist abscheulich, fast zum Erbrechen: ein glimmendes, unreines Gelb, … (…).“

Seite 100/101 aus Charlotte Perkins Gilman: „Die gelbe Tapete“, in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Da sie keiner sinnvollen Betätigung nachgehen kann und ihr Baby sie nervös macht (eine gewisse Mary versorgt das Kind), beschäftigt sich die junge Frau immer mehr mit der Tapete, in deren Muster entdeckt sie verdrehte Köpfe mit weißen Augen und Pilzkolonien.

Viktorianisches Halloween 2

Eine Frau kriecht hinter dem Muster herum, rüttelt nachts an ihm, um sich zu befreien.

(Bild rechts: Free-Photos/Pixabay)

Um der Leidensgenossin zu helfen, fängt unsere Erzählerin an, die Tapete herunter zu reißen, heimlich, denn ihr Mann und dessen Schwester Jennie – die vom Gatten wohl herbeordert wurde um den Haushalt zu versorgen – dürfen nicht erfahren, dass sie sich mit etwas beschäftigt statt zu ruhen.

Denn schon droht John, sie zu dem namhaften Arzt Weir Mitchell (den es wirklich gab: siehe Quellen und Weblinks ) zu bringen, sollte sich ihr Gesundheitszustand nicht bessern.

Eines Tages sieht die Tagebuchschreiberin die mysteriöse Frau plötzlich draußen im Park:

„Ich sehe, wie sie die lange, verschattete Allee auf und ab kriecht. Ich sehe sie in diesen dunklen, schlingpflanzenbewachsenen Lauben. Sie kriecht im ganzen Garten umher.“

Seite 114/115 aus Charlotte Perkins Gilman: „Die gelbe Tapete“, in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Auch die Erzählerin kriecht jetzt in ihrem Zimmer herum, immer an dem blank gewischten Streifen an der Wand entlang – tagsüber und bei abgeschlossener Tür. Nachts geht es nicht, denn dann ist John meist da. Und er und Jennie scheinen misstrauisch zu werden.

Die Zeit in dem Haus nähert sich dem Ende – die junge Frau versucht verzweifelt, die Tapete bis zu ihrem Auszug gänzlich abzureißen. Die Arbeit ist hart und mühsam und geht nur langsam voran.

Vor Wut beißt sie in das festgenagelte Bett – zu hart. Sie möchte aus dem Fenster springen – vergittert, es geht nicht und es gehört sich auch nicht.

Im Garten kriechen jetzt viele Frauen herum. Um das nicht tun zu müssen, hat sich die junge Frau an einem Seil festgebunden, sie will nur in diesem Zimmer kriechen und nicht draußen!

Die Tür hat sie verschlossen, den Schlüssel aus dem Fenster geworfen, damit sie in dem Zimmer bleiben und kriechen, kriechen, kriechen kann. Wie vorausschauend, denn John klopft und will herein zu ihr…

Und wie immer heißt es an dieser Stelle: das Ende bitte selbst lesen!!!

Viktorianisches Halloween 2 – mein Fazit

Erst dachte ich ja, die junge Frau wird in einem Zimmer eingesperrt, in dem einst eine Wahnsinnige „verwahrt“ worden ist, die jetzt – oh Grusel!!! – hinter der Wand haust und die Erzählerin mit ihrem Irrsinn ansteckt.

So sah meine Einschätzung vor einem Vierteljahrhundert aus, als ich Horrorgeschichten noch schnell verschlang und nicht lange darüber nachdachte.

Jetzt, nachdem ich mich mit dem viktorianischen Zeitalter eingehender befasst habe, weiß ich es besser – es geht der viktorianischen Amerikanerin Charlotte Perkins Gilman um so viel mehr.

Damals konnten sich nur wenige Frauen selbstbewusst behaupten und auf wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen oder politischen Feldern verwirklichen.

Der Großteil wurde nach der Heirat entmündigt, hatte als Frau, Mutter und Haushälterin zu fungieren. Wurden diese Unterdrückten dann depressiv oder emotional auffällig = hysterisch, setzten die Männer sie einer Ruhe- und einer Art ‚Mastkur‘ aus, wie sie der amerikanische Arzt Silas Weir Mitchell ersonnen hatte.

Frauen wurden gezwungen, sich zu schonen und viel zu essen nach dem Motto: mäste die Frau und sie wird zahm.

Und solch eine Behandlung musste auch die spätere Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman in ihrer ersten Ehe erdulden (siehe unter Quellen und Weblinks). Über die Torturen schreibt sie in „Die gelbe Tapete“, um derlei Umtrieben ein Ende zu setzen.

Der Horror der Kurzgeschichte liegt in den Ehebedingungen der Frau – in „Die gelbe Tapete“ treiben diese die Erzählerin langsam, aber sicher in den Wahnsinn.

Fein nuanciert gestaltet Charlotte Perkins Gilman die zunehmende Fixierung auf die Tapete und die allmähliche Verwirrung des Geistes – eindrucksvoll und wirklich schauerlich!!! Eine faszinierende Kurzgeschichte, lest sie unbedingt!!!

Viktorianisches Halloween 2 – mein Leseexemplar

Charlotte Perkins Gilman: „Die gelbe Tapete“, 23 Seiten, übersetzt aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Schulz in „Das vierte Buch des Horrors“ (UT: „Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen – 1870 bis 1900“), herausgegeben von Joachim Körber, insgesamt 303 Seiten, 1993, Wilhelm Heyne Verlag München.

Gibt es übrigens auch als englisch-deutsche Ausgabe:

Viktorianisches Halloween 2 – Quellen und Weblinks

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Vera