Inhalt
„Villette“ – eine Einführung
„Villette“ – in diesem Roman verarbeitete die viktorianische Schriftstellerin Charlotte Brontë unter anderem ihre enttäuschte Liebe zu dem verheirateten Professor Héger. Sie hatte ihn in dem Pensionat in Brüssel kennengelernt, in dem sie zunächst mit ihrer Schwester Emily („Wuthering Heights“) gelernt und gelehrt hatte und in das sie einige Monate später nochmals allein zurückkehrte.
Zunächst hatte Charlotte diese für sie so unglückliche Zeit in dem Buch „“The Professor“ verewigen wollen. Kein Verleger war an ihrem Manuskript interessiert, so schrieb sie es um zu „Villette“ und hatte Erfolg damit -> https://www.meineleselampe.de/meine-leselampe-vorschau-kw24/ und https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-24/.
Doch wie gesagt, die unglückliche Liebe war nur ein Thema. „Villette“ handelt auch von Einsamkeit und Isolation, von einem Leben als ewig Außenstehende, von äußerlicher Wortlosigkeit trotz eines regen Geisteslebens, von religiösen Konflikten in zwischenmenschlichen Beziehungen, von dem traurig beschränkten Leben einer alleinstehenden, nicht begüterten Frau und und und…
Wieviel von Charlotte Brontë steckt in der Heldin und Ich-Erzählerin des Romans, Lucy Snowe? Ich glaube, sehr viel, haben sie und ihre Schwestern nicht auch am Rand des gesellschaftlichen Lebens gestanden, als Gouvernanten gearbeitet, sich um den alkoholkranken Bruder und den verwitweten Vater gekümmert, als Lebenstraum nur die Hoffnung, ihre Bücher veröffentlichen zu können? Es gibt durchaus einige Parallelen und viele offene Fragen.
Der Name „Villette“ steht für „Brüssel“, das Königreich Labassecour für „Belgien“. Verwendete Charlotte Brontë diese fiktiven Namen, um die Menschen, die sie dort kennengelernt hatte, zu schützen oder …
… um mit der Überlegenheit der protestantischen Engländerin ungenierter den „Papismus“ und die Lebensart der Belgier kritisieren zu können (sie teilt in diesen beiden Punkten recht kräftig aus)?
(Bild rechts: Dimitris Vetsikas/Pixabay)
Schluss mit den Spekulationen – her mit den Fakten!!
„Villette“ – zum Inhalt
Lucy Snowe wächst unter traurigen Bedingungen bei Verwandten auf. Genauer schildert sie ihre Lebensumstände nicht, als versuche sie, ihre Leser vor allzu Niederdrückendem zu schützen. Zweimal im Jahr darf sie ihre verwitwete Patin Mrs. Bretton und deren Sohn John Graham in Bretton besuchen, bei ihnen fühlt sie sich wohl.
Lucy beginnt ihre Erzählung im Alter von vierzehn Jahren, dem Sommer, in dem auch die kleine Pauline („Polly“) Home ein Gast ihrer Tante ist, weil ihr Vater für einige Monate auf Reisen geht. Er versucht, die unglückliche Ehe mit seiner verstorbenen Frau zu vergessen. Die Vierjährige hängt sehr an ihrem Vater, sie findet erst Trost, als sie ihre ganze Liebe Graham zuwenden kann. Als der Vater Polly abholt, zerbricht die Kleine erneut fast am Trennungsschmerz, sie kann ihre starke Zuneigung offenbar nur auf eine Person fokussieren.
(Bild links: Nouplad/Pixabay)
Dieser Sommer ist der letzte, den Lucy bei Mrs. Bretton verbringt. Sie kehrt zurück zu ihren Verwandten und hat dort keine gute Zeit. Lucy wählt das Bild von einem bei Sturm in Seenot geratenen Schiff, um ihr Elend zu symbolisieren:
Ich erinnere mich allzu gut einer Zeit (-) voll Kälte, Gefahr, Kampf. Bis zu dieser Stunde bringen mir Alpträume den bitteren Salzgeschmack der Wogen zurück, die mir in die Kehle dringen, ihren eisigen Druck auf meine Lungen. Ich weiß sogar, dass ein Sturm getobt hat, (-), viele Tage und Nächte hindurch erschienen weder Sonne noch Sterne. (-) Schließlich ging das Schiff unter, die Mannschaft kam um.“
Seite 43 aus Charlotte Brontë, „Villette“, Roman, 658 Seiten (ohne das Nachwort von Sabrina Hausdörfer), übersetzt von Christiane Agricola, erschienen 1987 in der Reihe „Die Frau in der Literatur“ des Ullstein Verlages Frankfurt/M.-Berlin.
Wie Lucy später erfährt, verliert Mrs. Bretton das ererbte Vermögen und zieht mit ihrem Sohn fort. Lucy tritt eine Stellung bei der schwerkranken Miss Marchmont an. Gerade als sich beide Frauen näher kommen, stirbt Lucys Arbeitgeberin in einer stürmischen Nacht (das Heulen der Banshee!!).
Lucy fasst den mutigen Entschluss, nach London zu gehen, von dort zieht es sie über das Meer auf den Kontinent. Auf dem Schiff lernt sie eine junge Dame kennen, Ginevra Fanshawe, selbstsüchtig, eitel, oberflächlich, mit nur einem Ziel: an Geld zu kommen. Sie besucht in Villette, der Hauptstadt Labassecours, das Pensionat einer gewissen Madame Beck und gibt Lucy den Hinweis, dass dort eine Englischlehrerin gesucht werde.
Mehr recht als schlecht und ohne Französischkenntnisse erreicht Lucy ihr Ziel in der Rue Fossette in „Villette“, ein junger Engländer hilft ihr aus den ärgsten Schwierigkeiten heraus.
Bei Mme Beck arbeite Lucy zunächst als Bonne (Nanny) für deren Kinder, sie bringt sich Französisch bei und darf dann als Lehrerin unterrichten. Mme Beck ist eine eigentümliche Frau, freundlich und klug wirkt sie nach außen. Doch hinter der Fassade steckt eine gefühllose, alles ausspionierende, listige, nur sich selbst treue Frau. Sie schnüffelt auch ungeniert in Lucys Schubladen. Lucy kann damit gut leben, sie ist eher amüsiert über die Umtriebe ihrer Chefin. Sie konstatiert bei sich, dass das Lügen und die Falschheit Charaktereigenschaften der weiblichen Bevölkerung Labassecours sind.
Die Schülerinnen demütigen Lucy oft, sie schafft es jedoch, sich Respekt zu verschaffen. Und dann ist da noch ein Verwandter der Madame Beck: Literaturprofessor Paul Emanuel, ein jähzorniger Tyrann, der Lucy und der Menschheit „Zuckerbrot und Peitsche“ angedeihen lässt. Freundlich und großzügig auf der einen Seite – strenggläubig, gelehrt und sanguinisch auf der anderen.
Ein neuer Arzt, der das Pensionat betreut, fällt Lucy auf: ist Dr. John nicht der freundliche Gentleman, der ihr bei ihrer Ankunft in Villette geholfen hat? Und kennt sie ihn nicht von einer noch früheren Zeit? Lucy schweigt, da Dr. John keine Erinnerungen mit ihr zu verbinden scheint.
Die Damen des Pensionats sind in den jungen Arzt verliebt, sogar Madame Beck. Ginevra Fanshawe gar lässt sich von ihm beschenken, Lucy befürchtet, dass sie ihn nur ausnutzt und mit seinen Gefühlen spielt. Auf einem Ball anlässlich Madames Geburtstag bemerkt Lucy, dass Ginevra mit einem jungen Gecken, dem Oberst de Hamal, sehr vertraut zu sein scheint und ihn gegen Dr. John ausspielt.
In den Sommerferien bleibt Lucy fast ganz allein im Pensionat zurück. Die Einsamkeit setzt ihr so zu, dass sie krank wird, sie hat tagelang hohes Fieber. Zu guter Letzt hält sie es nicht mehr aus und macht einen Spaziergang.
Eine katholische Kirche zieht sie an, sie wohnt der Messe bei, nur um Menschen um sich zu haben. Danach sucht sie im Beichtstuhl das Gespräch mit einem Priester – Père Silas nutz die Gelegenheit und preist den Katholizismus als Lösung ihrer Probleme an. Das ist für die überzeugte Protestantin keine Alternative…
Auf dem Rückweg ins Pensionat verirrt sich Lucy, gerät in einen Sturm und verliert die Besinnung. Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einem behaglichen Wohnzimmer, die Möbel erscheinen ihr seltsam vertraut – sie gehörten einst ihrer Patin Mrs. Bretton.
Am nächsten Morgen, als Lucy erwacht, kommt die Dame des Hauses zu ihr – es ist tatsächlich Mrs. Bretton. Und ihr Sohn ist Dr. John Graham Bretton, d e r Dr. John, der auch die Bewohnerinnen des Pensionats betreut, für Lucy keine Überraschung. Graham hatte sie nach ihrem Zusammenbruch in der Sturmnacht gefunden und zu sich nach Hause gebracht.
Einige schöne Wochen folgen für Lucy, betreut und gepflegt von den Brettons, endlich hat sie Freunde um sich, ein lang vermisstes Gefühl. Dr. John vertraut Lucy seine Liebe zu Ginevra Fanshawe an, Lucy warnt ihn vor ihr. Auf ihre heftigen Worte hört Dr. John nicht, er nimmt sie Lucy aber auch nicht übel.
Erst als er mit seiner Mutter und Lucy ein Konzert besucht, beginnt er, Ginevras wahren Charakter zu erkennen. Die junge Dame sitzt in einer Loge und betrachtet seine Mutter sehr abschätzig. Mit dem ebenfalls anwesenden de Hamal tauscht sie Blicke intimsten Einverständnisses – so einer Frau will Dr. John „nicht seine Ehre anvertrauen“, wie er Lucy gesteht.
Die schöne Zeit bei den Brettons neigt sich dem Ende zu, Lucy kehrt ins Pensionat zurück und findet sich in ihre graue Alltagstristesse ein. Nur die Aussicht auf einen Brief Dr. Johns tröstet Lucy. Monsieur Emanuel errät schnell, was Lucy bewegt. Als endlich der ersehnte Brief kommt, quält und neckt er Lucy.
Um ihren Brief in Ruhe lesen zu können, zieht sich Lucy auf den Dachboden zurück. Ein Geräusch erschreckt sie, sie dreht sich um und sieht entsetzt eine schwarz-weiß gewandete Nonnengestalt – der Geist, der in dem Pensionat umgehen soll!!!! Noch zweimal wird der Geist Lucy begegnen, bevor sich sein Geheimnis lüftet.
Dr. John schreibt Lucy, die Briefe beglücken sie, doch das soll bald ein Ende haben. Bei einem Theaterbesuch mit Dr. John machen er und Lucy die Bekanntschaft des Grafen de Bassompierre und seiner liebreizenden Tochter Pauline Mary. Wie sich herausstellt, sind es die Homes, Paulina ist die kleine Polly, die einst bei Mrs. Bretton zu Gast war. Jetzt hat ihr Vater einen Grafentitel geerbt und Polly ist eine reiche Erbin.
Dr. John und sie kommen sich immer näher – Lucy wird wieder zur Randfigur, sie vergleicht sich mit einem Einsiedler, dessen Freunde ihn vergessen haben:
„Dieselbe leere Zeit, die ihm so langsam vergeht, dass die Uhren stillzustehen scheinen, die Stunden, die vorüber stapfen wie müde Landstreicher, die sich am liebsten am Meilenstein schlafen legen möchten – eben diese Zeit ist vielleicht für seine Freunde prall voll von Geschehen und fliegt unaufhaltsam dahin.“
Seite 353 aus Charlotte Brontë, „Villette“, Roman, 658 Seiten (ohne das Nachwort von Sabrina Hausdörfer), übersetzt von Christiane Agricola, erschienen 1987 in der Reihe „Die Frau in der Literatur“ des Ullstein Verlages Frankfurt/M.-Berlin.
Ganz so allein wie befürchtet bleibt Lucy nicht, sie wird häufig von den Brettons und den de Bassompierres eingeladen, Paulina vertraut ihr ihre Liebe zu Graham an und ihre Angst, im Falle einer Heirat ihren Vater im Stich zu lassen.
Im Pensionat sucht Professor Paul Emanuel immer wieder Lucys Nähe, er quält, beschimpft, kritisiert sie, hört ihr aber auch zu, nimmt sie ernst, sorgt sich um sie. Lucy bleibt ihm gegenüber oft wortlos, kränkt ihn oft durch missverständliches Benehmen, trotzdem wachsen sie zu Freunden zusammen.
Lucy erhält von Mme Beck eines Tages den Auftrag, einer gewissen Madame Walraven ein Namenstagsgeschenk zu überbringen.
Es wird ein bizarrer Besuch im so genannten „Viertel der Magier“ Villettes: Madame Walraven entpuppt sich als eine böse, hexenähnliche Alte, über und über mit Schmuck behängt. Den Obstkorb Mme Becks weist sie verächtlich zurück.
(Bild links: Peter H/Pixabay)
Lucy kann nicht sofort das ungastliche Haus verlassen, denn draußen tobt ein Unwetter. Das Bild einer jungen Nonne erregt ihre Aufmerksamkeit und fesselt sie.
Ein alter Priester, in dem Lucy Père Silas erkennt und der Gast des Hauses zu sein scheint, erzählt ihr die Geschichte der Nonne. Justine Marie sei die Enkelin der reichen Madame Walraven gewesen. Sie und ein wohlhabender Schüler des Père Silas hätten sich geliebt und heiraten wollen. Plötzlich sei die Familie des jungen Mannes verarmt, für Madame Walraven sei er als Freier nicht mehr in Frage gekommen. Justine habe sich entsagungsvoll in ein Kloster zurückgezogen und sei früh gestorben, ihr Geliebter habe sein Leben seither ihrem Gedenken und der Wohltätigkeit gewidmet.
Er kümmere sich sogar um Madame Walraven, seit auch sie ihr Vermögen verloren habe, damit sie ihren gewohnten Lebensstandard halten könne. Geschickt enthüllt Père Silas, dass es sich bei dem Unglücklichen um Paul Emanuel handelt.
Lucy begreift schnell, dass Père Silas und Mme Beck sich gegen sie verbündet haben, sie wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Paul Emanuel und sie sich zu nahe kommen. Ein Katholik und eine Protestantin – das geht nicht. Zudem soll Paul Emanuel für einige Jahre in die Kolonien reisen und sich dort um noch verbliebene Liegenschaften Madame Walravens kümmern. Der Reichtum, auf den man aus dieser Unternehmung hofft, soll in der Familie bleiben!
Bevor Paul Emanuel absegelt, macht er Lucy ein Geschenk: er hat ihr ein kleines Haus gemietet, in dem sie ihren Traum von einer eigenen Schule verwirklichen kann. Und er gesteht Lucy seine Liebe und bittet sie, auf ihn zu warten. Die folgenden drei Jahre beschreibt Lucy als ihre glücklichsten, sie hat Erfolg und kann ihre Schule ausweiten. Der Tag der Rückkehr ihres geliebten Paul Emanuel rückt näher, alles ist für ihn herausgeputzt und vorbereitet.
Lucy wartet – mit bangen Gefühlen. Denn über dem Meer tobt ein Sturm…
(Bild rechts: Nouplad/Pixabay)
Und ab hier gilt – wie immer – selbst weiterlesen!!!
„Villette“ – mein Fazit
Ein tiefgründiges Buch, Charlotte Brontë spielt mit tiefenpsychologischen Überlegungen, übersinnlichen und bizarren Elementen, religiösen und kulturellen Konflikten und gruppiert sie um eine an sich mutige und intelligente Akteurin, die jedoch nichts von ihren Vorzügen weiß.
Lucy Snowe bleibt in sich gefangen, fast immer wortlos, ergreift nur selten die Initiative. Sie verharrt in ihrem Schicksal, vor ihren Augen sieht sie ein trostloses und einsames Leben liegen, von dem sie dereinst nur die Qualen des Todes erlösen können.
Sie lässt sich herumstoßen, kränken und verharrt in einer spröden Passivität – nur der tyrannische Professor Paul Emanuel kann die „harte Schale knacken“ und ihr emotionale Reaktionen entlocken.
Manchmal kommt Lucy mir fast autistisch vor oder wie in einer negativen „self-fulfilling prophecy“-Schleife festhängend.
Bildlich ausgedrückt: die Türen und Fenster ihres Hauses sind verschlossen und verriegelt, nur ab und zu öffnet sie, ermutigt durch eine freundliche Zuwendung, ein kleines Törchen, um es bald enttäuscht wieder zu schließen.
Lucy folgt der Vernunft, doch in ihr kämpfen Hoffnung und Phantasie gegen den eingeschlagenen Weg des Pragmatismus an – ein facettenreiches Frauenbild, das Charlotte Brontë in „Villette“ zeichnet. Ich finde, die Figur der Lucy ist wesentlich komplexer gestaltet als Jane Eyre in dem gleichnamigen und mehr als bemerkenswerten Roman von 1847.
„Villette“ ist nicht immer einfach zu lesen, aber eine ganz große und wunderbare Erzählung, ein Muss für alle, die viktorianische Literatur lieben.
„Villette“ – mein Lese-Exemplar
Charlotte Brontë, „Villette“, Roman, 658 Seiten (ohne das Nachwort von Sabrina Hausdörfer), übersetzt von Christiane Agricola, erschienen 1987 in der Reihe „Die Frau in der Literatur“ des Ullstein Verlages Frankfurt/M.-Berlin.
„Villette“ – Quellen und Weblinks
- Was ist eine „banshee“? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Banshee
- Was ist eine „self-fulfilling prophecy“? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Selbsterf%C3%BCllende_Prophezeiung
- Worum ging es noch mal in „Jane Eyre“? -> https://www.meineleselampe.de/jane-eyre-1/ und -> https://www.meineleselampe.de/jane-eyre-2/
- Wie beurteilen andere „Villette“? -> https://en.wikipedia.org/wiki/Villette_(novel)