»Der Zauber viktorianischer Literatur« ist der Versuch einer Liebeserklärung an eine vergangene Zeit.

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Der Zauber viktorianischer Literatur – eine Einführung

»Kehrt man nach Jahren der Abwesenheit zu den Büchern zurück, fühlt man, […] die gleiche Wärme und Energie davon ausgehen und hat keinen größeren Wunsch, als darin zu verweilen wie in der Sonne, die von der roten Mauer des Obstgartens niederstrahlt …«.

-> zitiert Elsemarie Maletzke die große Virginia Woolf (siehe 1 unter Quellen und Weblinks)

So geht es heute auch vielen von uns, wir spüren den Zauber der viktorianischen Literatur und lassen uns gern davon gefangen nehmen.

Verlage legen Bücher viktorianischer Schriftsteller neu auf, viktorianische Klassiker werden erfolgreich fürs Kino und Fernsehen verfilmt, in den Medien werden viktorianische Gerichte nachgekocht und auch bei den Hörbüchern steigt die Zahl viktorianischer und neo-viktorianischer Romane stetig -> https://www.audible.de/

AutorInnen der Gegenwart beleben in ihren Werken das viktorianische Lebensgefühl, es boomen Romane wie die Ann Grangers, Anne Perrys, Graham Swifts, Colin Greenlands, Anja Bagus‘, etc., in denen die viktorianische Ära wieder aufersteht, sei es in Form eines Kriminal-, Gesellschafts-, Liebes- oder Science-Fiction-Romans.

Auch Terry Pratchett thematisierte in seinen Fantasy-Romanen viktorianische Errungenschaften oder Persönlichkeiten -> https://www.meineleselampe.de/ab-die-post/. Oder siehe »Dr. Who» -> https://en.wikipedia.org/wiki/The_Unquiet_Dead. Und ist nicht die Steampunk-Bewegung die heimliche Sehnsucht nach viktorianischen Zeiten?

Fachleute zählen den neo-viktorianischen Roman immerhin zu den bedeutsamsten Literaturgattungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Beispiel und Literaturtipp siehe 2 unter Quellen und Weblinks).

Doch worin liegt der besondere Zauber, die Faszination der viktorianischen Literatur?

Der Zauber viktorianischer Literatur – geniale AutorInnen und ihre große Themenvielfalt

Für jedes moderne Genre gibt es eine viktorianische Vorlage, die in dieser Ära neu geschaffen oder revolutioniert wurde.

Der Zauber viktorianischer Literatur

So entwickelten sich die spukhaften »gothic/mystery novels« von Ann Radcliffe (vor-viktorianisch), Joseph Sheridan Le Fanu, Wilkie Collins oder Edgar Allan Poe zu modernen Kriminalgeschichten.

Oder der anfangs übernatürliche Horror wandelte sich zum psychologischen wie bei Henry James »Die Drehung der Schraube« oder Robert Louis Stevensons »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«.

Autoren wie Jules Verne »Von der Erde zum Mond« und H.G. Wells »Die Zeitmaschine« begründeten die Science-Fiction-, Fantasy und die Steampunk-Literatur.

Und von 1837 bis 1901 wurden so viele Bücher für Kinder geschrieben wie niemals zuvor, ich nenne hier nur Lewis Carroll, Mrs. Molesworth, Charlotte Mary Yonge, Rudyard Kipling…Wer hat nicht »Das Dschungelbuch« oder »Alice im Wunderland« gelesen, gesehen, gehört?

In ihren Gesellschaftsromanen kritisierten viktorianische Autorinnen wie die Brontë-Schwestern die herrschende Doppelmoral und die daraus resultierenden Zwänge für Frauen. Elizabeth Gaskell machte darüber hinaus auf die Notlage der Arbeiter durch die Industrialisierung aufmerksam.

George Eliot wollte mit ihren ethischen und moralischen Grundsätzen die Menschheit läutern. Anthony Trollope verbreitete in seinen Werken zwar die behagliche Gemütlichkeit britischen Provinzlebens, paarte sie aber durchaus mit ironischer Kritik an Adel und Geistlichkeit wie in seinen »Chroniken von Barsetshire«.

Und Mary Elizabeth Braddon sorgte mit ihren Sensationsromanen über unangepasste Frauen (und dem eigenen Lebenswandel) für gehörige Skandale in der prüden viktorianischen Gesellschaft.

Viktorianische Gesellschaftsromane – oft schwingt leise die Kritik an sozialen und politischen Missständen mit, häufig scheitern Menschen an gesellschaftlichen Zwängen!

Charles Dickens begeistert noch heute mit seiner skurrilen Phantasie und symbolträchtigen Beschreibungen in seinen Romanen, Erzählungen, ja, sogar in seinen Reiseberichten. Bei ihm erscheinen Häuser, Landschaften und Wetterphänomene wie lebendige Wesen.

Und er klagte pathetisch die Armut der Kinder in seinen Romanen an, so in »Oliver Twist« und im autobiographischen »David Copperfield«.

Der Zauber viktorianischer Literatur / David Copperfield

William Makepeace Thackeray beleuchtete seine viktorianischen Zeitgenossen mit heiterem, jedoch gelassenen Spott wie u.a. in »Jahrmarkt der Eitelkeit«. Bissiger wurde später der skandalöse Oscar Wilde in seinen zynischen Gesellschaftskomödien und Theaterstücken, in denen er sich über die Dekadenz der Oberklasse mokiert. Gleichzeitig erschuf Wilde als Vertreter des Ästhetizismus wunderbare Kunstmärchen.

Kunstmärchen für Groß und Klein kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Mode. Die SchriftstellerInnen konnten in ihren Märchenszenerien ungestraft gegen viktorianische Enge und Strenge rebellieren. Der produktivste Verfasser auf diesem Gebiet war kein englischer sondern ein dänischer Viktorianer: Hans-Christian Andersen schrieb 156 Kunstmärchen!!

Großer Beliebtheit erfreuten sich bei den Viktorianern auch Abenteuerromane wie »Die Schatzinsel« von Robert Louis Stevenson und historische Romane wie »Die letzten Tage von Pompeji« von Edward Bulwer-Lytton.

Der Zauber viktorianischer Literatur / mrs beeton

Bis heute ist hohe Kunst der Haushaltsführung nebst den gesammelten Rezepten der Mrs. Isabella Beeton in englischen Buchhandlungen zu finden –

– kurzum: zu Queen Victorias Regierungszeit lebte die literarische Vielfalt.

Der Zauber viktorianischer Literatur – geniale AutorInnen und ihre unvergesslichen HeldInnen

Sie alle beleben seit über 100 Jahren unsere Phantasie, egal, wie jung oder alt wir sind: die Heldinnen und Helden aus den viktorianischen Romanen, ersonnen von ihren literarischen Müttern und Vätern, unsterbliche Geschöpfe unsterblicher SchöpferInnen. Denkt nur an den verrückten Hutmacher und das weiße Kaninchen; an die kleine Meerjungfrau und ihre verhängnisvolle Liebe oder das Mädchen mit den Schwefelhölzern und sein trauriges Ende; an den armseligen Jo aus dem Londoner Elendsviertel Tom-All-Alone’s.

Oder an Jane Eyre, die Waise von Lowood, die unbeirrt und unverführbar ihren Weg geht;

Der Zauber viktorianischer Literatur / Miss Austen Regrets etc.

an Heathcliff mit seinem unstillbaren Rachedurst; an den einbeinigen Schurken und Schiffskoch Long John Silver (»15 Mann auf des toten Mannes Kiste«) und seinen Papagei oder an den hartherzigen Ebenezer Scrooge; an den eitlen Dorian Gray, den verzweifelten Dr. Jekyll, das verbrecherische Duo Sir Percival Glyde und Don Fosco und und und!

Es gibt ihrer noch so viele, sie alle warten darauf, entdeckt und gelesen zu werden… Ich denke, sie werden auch in den kommenden Jahrhunderten ihren Zauber auf uns ausüben. Meine kleine Liebeserklärung an die viktorianische Literatur erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll nur Appetit machen, diese Werke selbst zu kosten und die viktorianische Ära lesend, schauend oder hörend -> https://www.audible.de/ep/hoerbuecher zu erkunden.

In dem Sinne, lasst es Euch literarisch schmecken.

Der Zauber viktorianischer Literatur – Quellen und Weblinks

  1. Elsemarie Maletzke, »George Eliot«, Biographie, 390 Seiten, Taschenbuch, erste Auflage 1997, Insel Verlag Frankfurt a.M. und Leipzig, Zitat Seite 305/306
  2. Imke Neumann, »The past is no foreigen country« – Der neoviktorianische Roman in Großbritannien und Irland, 316 Seiten, SALS Bd.33, erschienen 2008 im Wissenschaftlichen Verlag Trier
  3. https://de.qaz.wiki/wiki/Victorian_literature
  4. https://www.planet-wissen.de/kultur/literatur/maerchen/pwiehanschristianandersen100.html
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Schatzinsel
  6. https://magazin.audible.de/mehr-buecher-lesen/
  7. https://magazin.audible.de/viktorianische-krimis/
  8. und die Romane, die ich gelesen und besprochen habe auf Meine Leselampe

Dieser Beitrag vom 19.3.2021 wurde am 19.11.2024 aktualisiert. Die Fotos stammen von mir.

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Der Zauber viktorianischer Literatur / »The Life of Charles Dickens« (1872-1874)