»Zu Fuß durch Europa« oder auch »Bummel durch Europa« – schon öfter habe ich einiges über den vergnüglichen Reisebericht des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain (1835-1910) berichtet, Ihr findet die Links zu den Beiträgen unter »Zu Fuß durch Europa – bisher auf Meine Leselampe« [1], [2] und [3] (ganz unten). Sie dienen als Einleitung zu meiner heutigen Buchbesprechung.
Inhalt
»Zu Fuß durch Europa« – zum Inhalt
Der Tausendsassa unter den Schriftstellern seiner Zeit war nicht nur Job-Hopper und Vielfach-Wohnortwechsler, nein, er reiste auch oft und gern durch die Welt. 1878 brach Mark Twain zu einer Europareise auf, seine Erlebnisse veröffentlichte er 1880 unter dem Titel »A Tramp Abroad«.
Gleich vorab: Twain hat Europa nicht in Gänze zu Fuß durchquert, wie er und sein fiktiver Reisebegleiter Harris es eigentlich vor hatten. Große Distanzen überwanden die Herren dann doch lieber mit der Eisenbahn oder der Kutsche oder dem Floß.
Doch gewandert und spazieren gegangen sind die beiden und nicht zu vergessen: sie absolvierten eine aufsehenerregende und gefährliche Bergbesteigung. Und zwar mit einer Begleitkarawane von 198 Personen (einschließlich Kellnern, Köchen, Bäckern, Wäscherinnen und Büglerinnen), 205 Maultieren und Kühen sowie Essensvorräten, Zigarren, Whiskey, Opium, Matratzen, Zelten, Dynamit, Seilen und 154 Regenschirmen. Es galt vom schweizerischen Zermatt aus (1611 Meter über dem Meeresspiegel) den Riffelberg mit 2570 Metern Höhe zu bezwingen, laut Baedeker ein einfacher und leichter Aufstieg mit nicht zu verfehlendem Weg und einer Dauer von drei Stunden.
Twain – der gern und häufig diesen Reiseführer korrigierte (im Sinne von persiflieren) – kam auf sieben Tage Wanderdauer und konstatierte eine Baedeker-Fehleinschätzung von mehreren 10.000 Metern bei den Höhenlagen. Ich empfehle die entsprechenden Kapitel 7 bis einschließlich 10 als ein wunderbares Beispiel für Twains »Tale-Telling«, für die Überspitzung bis hin zum Absurden.
Europa mit Mark Twains Augen zu sehen, hat mir viel Vergnügen bereitet, aber auch viel Information über das »alte Europa« vermittelt. Interessant für mich war seine Beschreibung Heilbronns, das ich so nicht mehr kennenlernen durfte, denn im Zweiten Weltkrieg wurden fast alle der alten Bauten durch Bomben zerstört. Und durch Mark Twain erfuhr ich, dass das Heidelberger Schloss im Jahre 1878 eine zerstörte und weiterhin dem Verfall preisgegebene Ruine war. Ich habe mal nachgesehen: tatsächlich wurde das Heidelberger Schloss erst zwischen 1897 bis 1900 wiederhergestellt und auch da nur der Friedrichsbau, alles andere wäre zu teuer geworden…[4].
Was mich ebenso überraschte, war, dass im 19. Jahrhundert die klassischen Statuen in Florenz schamhaft mit Feigenblättern an den entsprechenden Stellen bedeckt wurden und dass die vielgepriesenen alten Meister in den Uffizien ob ihrer Kunst ja eigentlich »alte Lehrlinge« genannt werden müssten – aber Twain und die schönen Künste sind ein Kapitel für sich, wie auch sein Besuch des Mannheimer Nationaltheaters beweist [5].
Köstlich – die Empfindungen Mark Twains bei einer Wagner-Oper, der er im Nationaltheater beiwohnte. »Lohengrin« klang ihm schmerzhaft in den Ohren:
»Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. […] Wenn das Heulen und Wehklagen und Kreischen der Sänger und Sängerinnen und das Wüten und Toben des gewaltigen Orchesters höher anschwollen und wilder und wilder und grimmiger und grimmiger wurden, hätte ich aufschreien können, wäre ich allein gewesen.«
Seite 57/58 aus: Twain, Mark, »Zu Fuß durch Europa«, 486 Seiten, übersetzt von Gustav Adolf Himmel, 2. Auflage, Göttingen, 1967.
Doch Mark Twain lästerte nicht nur, er konnte auch aufrichtig staunen und genießen wie er bei seiner Beschreibung der nächtlichen Illumination des Montblanc durch das Mondlicht zeigte:
»Ein tiefgrünes Leuchten sprang hinter dem Berg zum Himmel auf, und darin schwammen einige hauchdünne Dunstfetzen und Streifen und waberten hin und her, nachdem sie diese eigenartige Tönung angenommen hatten: sie zuckten wie blasse grüne Flammen. Nach einer Weile schossen gewaltige, nach oben immer breiter werdende Schattenstreifen strahlenförmig hinter dem Berg bis zum Zenith empor.«
Seite 375 aus: Twain, Mark, »Zu Fuß durch Europa«, 486 Seiten, übersetzt von Gustav Adolf Himmel, 2. Auflage, Göttingen, 1967.
So, dass Mark Twain das europäische Brot, der Kaffee, die Milch, kurz: das ganze Essen und Trinken nicht geschmeckt hat, dass alle Deutschen schrecklich klingende Sänger tolerieren und beklatschen, höflich grüßen und Brillen tragen (dazu erzählt Twain eine köstliche Sage) und dass Amerikaner am besten zu Hause im eigenen Land aufgehoben sind, hatte ich schon auf Meine Leselampe erwähnt, siehe [1-3]. Diesen letzten Punkt sollte man nicht zu ernst nehmen, Twain war noch häufig in Europa, hat einige Jahre später sogar in Berlin und Wien gewohnt [5].
Mark Twain hat seinem Buch – begründet mit einem Zitat des griechischen Geschichtsschreibers Herodot – gleich fünf Anhänge verpasst:
»Nichts verleiht einem Buch soviel Gewicht und Würde wie ein Anhang. Herodot.«
Seite 441 aus: Twain, Mark, »Zu Fuß durch Europa«, 486 Seiten, übersetzt von Gustav Adolf Himmel, 2. Auflage, Göttingen, 1967.
Als da wären:
Anhang A: Der Portier
Anhang B: Das Heidelberger Schloss
Anhang C: Die schreckliche deutsche Sprache
Anhang D: Deutsche Zeitungen
Anhang E: Der Karzer
Wenn das »Zu Fuß durch Europa« nicht besonders viel Gewicht und Würde verleiht, dann weiß ich auch nicht…
»Zu Fuß durch Europa« – zum Hintergrund
Einige Fakten aus dem Nachwort des Übersetzers Gustav Adolf Himmel und des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht möchte ich kurz erwähnen. Twain reiste nicht mit dem Reisebegleiter Harris durch Europa, sondern brav an der Seite seiner Ehefrau und mitsamt den beiden Töchtern sowie einem Kindermädchen. Unterwegs traf Mark Twain einen Freund, den Pfarrer Joseph Hopkins Twichell, der ihm als Vorlage für Harris diente.
»Zu Fuß durch Europa« – mein Fazit
Twain komponiert seinen Reisebericht aus gegensätzlichsten Erzähl-Elementen: er mischt atemberaubende und romantische Naturschilderungen mit Spöttelei und Kritik, mit abstrusen wissenschaftlichen Theorien sowie wilden Phantastereien und Übertreibungen. Das macht »Zu Fuß durch Europa« (oder »Bummel durch Europa«) zu einem außergewöhnlich abwechslungsreichen und ausgefallenen Werk.
Ach, ich mache es kurz und sage klipp und klar, was ich von dem Buch halte: es ist wunderbare, ganz ganz große Erzählkunst!!! Lest es unbedingt, reist mit Mark Twain durch Europa, sonst entgeht Euch was.
»Zu Fuß durch Europa« – dazu bisher auf Meine Leselampe
[1] https://www.meineleselampe.de/sprache-und-bummelei/
[2] https://www.meineleselampe.de/und-bummel-meine-leselampe-22-kw-27-vorschau/
[3] https://www.meineleselampe.de/goes-europa-viktorianische-zeilenreise-22-27/
»Zu Fuß durch Europa« – Quellen und Weblinks
[4] über das Heidelberger Schloss -> https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelberger_Schloss
[5] über das Nationaltheater Mannheim damals und heute -> https://de.wikipedia.org/wiki/Nationaltheater_Mannheim
[6] über Mark Twain, sein Leben, seine Reisen -> https://de.wikipedia.org/wiki/Mark_Twain
Übrigens: dieser Beitrag wurde zunächst am 8.7.2022 veröffentlicht und überarbeitet dann nochmals am 24.6.2024.
»Zu Fuß durch Europa« – mein Lese-Exemplar
Twain, Mark, »Zu Fuß durch Europa«, 486 Seiten (mit Anhängen, Nachwort, Inhaltsverzeichnis), übersetzt von Gustav Adolf Himmel, 2. Auflage, erschienen 1967 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Müheloser erhältlich als meine alte Ausgabe dürfte eine vergleichsweise neue Auflage mit dem Titel »Bummel durch Europa« sein. Erschienen 2009 im Anaconda Verlag, übersetzt von Ana-Maria Brock: